Dienstag, 03. Oktober 2023

Atelier 3

Klaus Peter Fischer, Heidelberg

STRUKTURWANDEL DER KIRCHE – AUFGABE UND CHANCE ?  

Relecture einer Programmschrift

 Befragt – wenige Wochen vor seinem Tod  (30. März 1984) – zur Wirkung seines Buches „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“ (von 1972), äußerte Karl Rahner, er habe es selber „fast vergessen“; nie habe er dazu von Bischöfen eine Reaktion gehört, auch keiner seiner Freunde, nicht einmal Kardinal Volk (damals Bischof von Mainz), habe zu ihm darüber je ein Wort verloren.

Anlass des Buches war die Synode der Deutschen Bistümer in Würzburg  (von 1971-1975)[1]. Manche haben die Synode damals überschwänglich als „deutsches Konzil“ bezeichnet. Rechtlich konnte sie das nicht sein, der Idee nach schon. Das II.Vatikanische Konzil war wenige Jahre zuvor beendet. Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laienchristen waren von Aufbruchsstimmung erfüllt (trotz ersten Frosteinbruchs im Sommer 1968). Dem Konzil ging es – nach dem Willen von Johannes XXIII. – um die Zukunftsfähigkeit der ganzen katholischen Kirche, und zwar durch Erkenntnis der „Zeichen der Zeit“. Der deutschen Synode sollte es – nach Rahners Überzeugung – um eben das gehen: die Zukunftsfähigkeit der katholischen Kirche in Deutschland. Der Synodenversammlung aber fehlte ein derartiges Konzept. Rahner machte es sich zur Aufgabe, ein solches zu erstellen. Dies war das Anliegen des Strukturwandel-Buches. Rahners Programmschrift wurde durchaus zur Kenntnis genommen. Doch weiß man heute, daß Verschweigen (oder Ignorieren) des Buches noch die vornehmste Reaktion derer war, die sich mit Rahners Vorstellungen von notwendigen Wandlungen der Kirche und in der Kirche nicht anfreunden konnten. ´Hintenherum` wurde viel geredet; etliche Wortführer taten Rahner als „Sandkastenstrategen“ ab. Andere wurden deutlicher, bemängelten die „radikalen Thesen“, „progressiven Parolen“ und „abenteuerlichen politischen Positionen“, in die Rahner sich habe „hineindrängen“ lassen.[2]

Die heutige Generation liest Rahners kleine Schrift sicherlich mit anderen Augen als die von damals. Für ihre Gesamtbeurteilung dürfte wichtig sein, sich ihres Grundgedankens – besser: ihrer Glaubensbasis – zu vergewissern.

Wo stehen wir ?

Die kleine, inhaltsreiche Schrift kann hier nur skizziert werden.[3] Ihr 1.Teil fragt: Wo stehen wir? und gibt eine „Situationsanalyse“. Analysen, die man von Bischöfen und Pfarrern oft  „aus dem Handgelenk heraus“ höre, seien häufig aus zwei Teilen zusammengesetzt: Darstellung der Situation, wie sie von ihnen trotz Schwierigkeiten bewältigt werde, und Darstellung der Welt, in der Glaube und Moral beständig abnähmen – eine „seltsame Mischung aus einem bockigen Konservativismus ... und einer uneingestandenen Verzweiflung“.

„Die wirkliche Welt dazwischen“ fehle solchen Darstellungen meist: „die Welt, die Aufgaben stellt, die die Männer der Kirche noch nicht erfüllen, die wirklich neu sind und durchaus Chancen ihrer Bewältigung bieten“ (22). Vor allem: die Kirche gehe von ihrer früheren,volks-kirchlichen Gestalt (mit homogener Gesellschaft und Kultur) über zu einer Gemeinschaft von Glaubenden, die sich in persönlich-freiem, reflexem Glaubensentschluss kritisch absetzen vom durchschnittlichen Meinen und Empfinden der gesellschaftlichen Umwelt: „Eine solche Kirche wird die Kirche der Zukunft sein, oder sie würde nicht mehr sein“ (26f). Der „oft beklagte“ Schwund an Christlichkeit und Glaube sei zunächst Schwund der gesellschaftlichen Homogenität und sozialen Selbstverständlichkeit des Glaubens – Schwund also einer bestimmten Glaubenskultur –, noch nicht (von uns gar nicht beurteilbar) Schwund des heilshaften Glaubens selbst  (27). Das bedeute: die Christen der (schon angebrochenen) Zukunft werden die herkömmlichen Lebensäußerungen der Kirche nur vollziehen können, wenn sie sie verstehen als Echo, Ausdruck, Symbol einer bisher ungewohnten, letzten Existenz- und Gotteserfahrung. Für diese neue Situation sieht Rahner kirchliches Amt und Traditionskatholiken wenig gerüstet. Deren Tendenz sei „die Verteidigung des Überkommenen, nicht die Vorsorge für eine Situation, die am Kommen ist“. Muß man in naher Zukunft „nicht froh sein, wenn die sogenannten Laien in einem Gottesdienst noch da sind und das Wort ergreifen? Muß man also das Problem der ´Laienpredigt` mit so viel Wenn und Aber, mit so viel letztlich für die kommende Situation überflüssigen theologischen Bedenken behandeln?  ... Wird es nicht bald so sein, daß jeder Bischof und jeder Pfarrer froh sein werden um jedes Stückchen Mitverantwortung, das die Laien auf sich nehmen wollen?“ (29f)

Kirche der Zukunft werde „Kirche der kleinen Herde“ sein. Daher müßten ihre Lebensäußerungen „den Schwerpunkt auf eine offensive Haltung für die Gewinnung neuer Christen aus einem ´unchristlichen` Milieu legen“: Ein einziger neu gewonnener Christ bedeute mehr, als „zehn ´Altchristen`“ zu halten (35f).[4] Es brauche Mut zur „Kirche der Ungleichzeitigkeit“. Darin verträten die ´Neuchristen` den unvermeidlichen Fortgang der Geschichte der Kirche; Aufgabe der ´Altchristen` könne sein, der Kirche von Morgen „die unaufgebbaren Werte der Vergangenheit“ einzustiften (40). Die Kirche der anbrechenden Zukunft müsse die Polarisierungen und einander exkommunizierenden Gruppenfeindschaften überwinden (42-46).

Schon der Blick in Teil I des Buches macht deutlich: auf Rahners Überlegungen lagert nicht der Staub von Gestern, sie könnten auch heute und für heute verfaßt sein. Die seit Rahners Tod ergangenen Bescheide des Vatikan weisen aber in die entgegengesetzte Richtung. Überwiegend setzt das kirchliche Amt auf  Wahrung und Verteidigung des traditionellen Bestandes sowie auf Abgrenzung vom „Zeitgeist“ der unchristlichen Welt. Das zeigt: Vatikan und Bischöfe teilen Rahners Analyse der Situation und Folgerungen daraus weithin nicht. Den Verlautbarungen nach erwartet man aus der Wiederbelebung traditioneller Strukturen und Profile die Wiederbelebung und Stärkung der Kirche in Geist und Praxis. Man fürchtet die Wellen des Zeitgeistes, sieht auf ihnen nicht Christus kommen, sondern das Gespenst des Unglaubens und des Versinkens der Kirche.

Was sollen wir tun ?

Im 2. Teil fragt Rahner nach Konsequenzen: Was sollen wir tun? Natürlich werde die Kirche der Zukunft eine – allerdings re-formierte – römisch-katholische Kirche sein. Zu dieser Kirchenreform gehöre Entklerikalisierung der Kirche. Dafür wesentlich sei die wirkliche, folgenreiche Anerkennung der Tatsache, daß Gottes Geist nicht nur Amtsträgern, sondern allen Getauften gegeben ist, mit der Folge, daß das kirchliche Amt künftig davon abstehe, seine Anerkennung durch bloße Berufung auf seine Autorität einzufordern, sondern sich „im Erweis des Geistes“ vor den Christen glaubwürdig legitimiert. Das kirchliche Amt stehe im Dienst an der „Hierarchie“ (sozusagen) „im eigentlichen Wesen der Kirche“; m.a.W.: „die Liebenden, die Selbstlosen, die Prophetischen in der Kirche machen die eigentliche Kirche aus“; sie deckt sich nicht einfach oder primär mit den Amtsträgern (61-65).

In scharfer Diskrepanz zu Rahners Plädoyer steht das gültige Kirchenrecht, von der sog. Laieninstruktion aus Rom 1997 in herausforderndem Ton eingeschärft: Laien, auch theologisch voll gebildete, könnten (heißt es) und dürften nie den Priester ersetzen; nicht einmal in einem Akt  freiwilliger Selbstentäußerung könne die Hierarchie Laien auch nur an einem Teil ihrer „heiligen Vollmacht“ teilgeben; in Glaubens- und Sittenlehre hätten sie nicht mitzuentscheiden. Zuwiderhandlungen, beruhend selbst auf  jahrzehntelanger Alternativ-Praxis in etlichen Regionen, seien ungültig und als nichtig zu werten. Es komme auch zB nicht auf die womöglich bessere Predigtqualität eines Ungeweihten  an, sondern einzig auf die Frage, wer durch bischöfliche Weihe ermächtigt ist, wer nicht.

Dagegen fordert Rahner eine „dienend besorgte Kirche“: besonders kirchliche Amtsträger neigten – zumal wenn die Kirche bedrängt wird – zu „ekklesiologischer Introvertiertheit“, wo man  (wie z.B. in der NS-Zeit) mehr an den institutionellen Bestand der Kirche denke als an die bedrängten Menschen. Auch vergesse man leicht, daß Gottes Heil nicht an die Grenzen der sichtbaren Kirche gebunden ist. Die Gewinnung neuer Kirchenchristen sei wichtig im Sinne des Zeugnisses für „die überall in der Welt wirksame Gnade Gottes“ (66f). Wichtig sei auch eine Kirche, die nicht mehr moralisiert – die zu kündende Moral macht sie konsequent durchsichtig auf den „innersten Kern der christlichen Botschaft, ... die Botschaft der Liebe“. Umgekehrt gelte: „Wo der Mensch die Erfahrung Gottes und seines aus der tiefsten Lebensangst und der Schuld befreienden Geistes auch anfanghaft nicht gemacht hat, brauchen wir ihm die sittlichen Normen des Christentums nicht zu verkündigen. Er könnte sie ja doch nicht verstehen, sie könnten ihm doch nur höchstens als Ursachen noch radikalerer Zwänge und tieferer Ängste erscheinen“ (71f). Stattdessen gelte es, die Gewissen spirituell zu bilden, Menschen die „Logik der existenziellen Entscheidung“ nahezubringen. Konsequent wirbt Rahner für eine „Kirche der offenen Türen“, die ihre Mitglieder auch unter Entfremdeten und „Fernstehenden“ sucht: sie könnten, wenn sie sich trotz kritischer Distanz für Glaube und Kirche interessierten, aber wegen ihrer Lebensgeschichte lieber „draußen“ blieben, dem „Herzen“ nach (Augustinus) tiefer zur Kirche gehören als viele, die dem „Leib“ nach „drinnen“ sind. Diese Sicht nötige auch zu mehr Gelassenheit z.B. bei Beurteilung nicht-traditioneller, vielleicht „mißverständlich“ oder „gefährlich“ klingender theologischer Interpretationen (76-81). In „Kirche der konkreten Weisungen“ (82-87) ermutigt Rahner das kirchliche Amt zu prophetischen Stellungnahmen auch unterhalb lehramtlicher Verbindlichkeit.

Zentrales Anliegen ist „Kirche wirklicher Spiritualität“ (88-95). Eindringlich-selbstkritisch spricht Rahner die Theologen an: Stellt euch vor, „ihr würdet auf der Straße spazieren gehen mit einem Brotverdienst wie ein Straßenkehrer oder wie (wenn das besser gefällt) ein Wissenschaftler in einem Labor für Plasmaphysik, wo den ganzen Tag lang nie ein Wort von Gott fällt und doch stolze Erfolge erzielt werden. Stellt euch vor, euer Kopf sei müde vom Straßenkehren oder von der Molekularphysik und ihrer Mathematik. Stellt euch vor, diese eure Situation dauere schon so ungefähr ein Leben lang ... Und jetzt versucht, diesen Menschen dieser Umgebung die Botschaft des Christentums zu sagen ... Horcht zu, wie ihr sie sagt, schmeckt selbst, wie sie klingt, denkt nach, wie ihr sie sagen müßtet, damit sie nicht von vornherein nur auf ... Ablehnung stößt ... Wie das Wort ´Gott` zunächst einmal umschreiben? Wie von Jesus so sprechen, daß ein anderer einigermaßen ahnen kann, was er für eine Bedeutung in eurem Leben hat?“ (89) Spirituell lebendig wäre die Kirche, wenn in ihr „Mystagogie in die lebendige Erfahrung Gottes, die aus der Mitte der eigenen Existenz aufsteigt“, aktive Wertschätzung der Klassiker des Geistlichen Lebens, und politischer Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit (als Aspekt des gläubigen Ja zu Gott) zu finden sind.

Wie ist eine Kirche der Zukunft zu denken ?

Die praktischen Impulse werden im 3.Teil weitergeführt als Frage, wie eine Kirche der (entfernteren) Zukunft zu denken wäre. „Offene Kirche“ (100-108) setzt ein sich öffnendes Denken, eine generöse Theologie voraus. Im Kapitel „Ökumenische Kirche“ (109-114) bedenkt Rahner, wie eine die konfessionellen Spaltungen überwindende, geeinte Kirche aussehen könnte: Ging man bisher davon aus, institutionelle Einigung der Kirchen könne nur Folge theologisch-bekenntnismäßiger Einigung sein, wäre einmal zu überlegen, ob eine institutionelle Einigung (wie immer konkret-praktisch – nicht uniform! – definiert) die glaubensmäßige und theologische Einheit als Folge der Vereinigung fördern würde. Bedenke man, daß die meisten Christen, da sie auf dem Boden des Apostolischen Glaubensbekenntnisses stehen, schon heute geeint sind, und so keine wirklich trennenden Hindernisse mehr zwischen ihnen stehen (und gemäß der „Hierarchie der Glaubenswahrheiten“ die noch ungelöste Ämterfrage sicher kein wesentliches Problem darstellen kann); bedenke man zudem, daß die meisten Christen ihrer Bekenntniskirche vorab aus soziologischen Gründen angehören und ein Glaubensbewußtsein leben, das viel einfacher ist als die differenzierte, amtliche Glaubenslehre ihrer Konfession, würde eine institutionelle Einigung heute an diesem faktischen Glaubensbewußseinsstand nichts ändern. Auch das Papsttum könnte, als erneuertes Petrusamt, für andere Bekenntniskirchen akzeptabel sein, wenigstens so, daß sie dessen römisch-katholische Ausprägung als für diese Teilkirche gültig akzeptierten.[5]

Man tut gut, sich hier vor Augen zu halten, daß Rahner mit der „Kirche der Zukunft“ keineswegs das Idealbild von Kirche zeichnen will – Kirche, wie sie sein soll –, sondern Kirche, wie sie werden muß oder müßte, soll sie den ihr zugemuteten epochalen Veränderungen, ja dem ihr aufgetragenen Gestalt- und Strukturwandel gerecht werden: ihrer Aufgabe und Chance zugleich. Sich dies klarzumachen ist wichtig auch für das Verständnis des Kapitels „Kirche von der Basis her“ (115-126). Rahner, überzeugt, der Christ der Zukunft werde mehr denn je Christ sein nicht aus Herkunft, sondern aus persönlicher Entscheidung, sieht die Kirche der Zukunft mehr denn je „durch Basisgemeinden freier Initiative und Assoziation“ aufgebaut. Die von solchen Christen gebildeten Gemeinden seien – ähnlich wie in der Frühzeit – immer wesentlicher werdende Bausteine der zukünftigen Kirche. Sie bedürften der Anerkennung und – ihr unbürokratisches und kreatives Gepräge[6] respektierenden – Begleitung durch die Kirche der Tradition. Diese Sicht enthält auch eine „demokratisierte Kirche“ (127-130), welche Ernst macht mit der Tatsache, daß zwar das kirchliche Amt als solches – seine dienende Vollmacht – göttlichen Rechtes ist  (wie man zu sagen pflegt), damit aber nicht vorentschieden und impliziert ist, wie – Weg und Weise –  eine geeignete Person zu diesem Amt bestellt wird.

Auch hier schlägt die römische Zentrale den entgegengesetzten Weg ein. Die erwähnte Laieninstruktion betont, die Kirche könne Kriterien für das Leitungsamt nicht aus Vereinswesen oder Politik ableiten, da Christus ihr Leiter sei; darum habe keine Gemeinschaft, Gemeinde, die „kirchlich“ heißen wolle, eine eigene Vollmacht, das Lehr- und Leitungsamt einer Person aus ihren Reihen zu übertragen. Diese Behauptung überzeugt kaum. Die frühen Gemeinden haben ihre Organisation und Leitungsform nachweislich (bis ins Vokabular) dem antiken Vereins-,dann Haus-Wesen entnommen. Dieses Modell führte zur Gleichsetzung „glauben“ = „gehorchen“ (dem Hausvorsteher) und entsprechenden Deutung des Wortes „Wer euch hört, hört mich“ (Lk 10,16 – bei Mt „wer euch aufnimmt, nimmt mich auf“:10,40). Paulus gewann und behielt Autorität in den Gemeinden v.a. durch inhaltliche Überzeugungsarbeit.M.E. verhindert gerade die Sorge um die Anerkennung des hierarchischen Amtes in der eigenen Kirche – im Blick auch auf sog. Basisgemeinden – den Vatikan bisher an dem ökumenischen Schrittt, die in den getrennten Kirchen gewachsenen Ämter anzuerkennen – würde man damit ja den eigenen strengen Anspruch – Unersetzbarkeit des Bischofsamtes – womöglich ´aufweichen`.

Das letzte Kapitel „Gesellschaftskritische Kirche“ zieht Folgerungen aus der mit dem Epochenwandel zuwachsenden Einsicht, daß Nächstenliebe zwar mit Gottesliebe verflochten, aber nie mehr nur ´privat` aufgefaßt werden kann: Nächstenliebe will auch Gerechtigkeit und artikuliert sich heute auch als „Wille zu einer besseren Gesellschaft“, zu Gerechtigkeit zwischen den Völkern und zu verantwortlichem Umgang mit der Schöpfung. –   Soweit ein skizzenhaftes Resümee des Buches.[7] Es sei – so Rahners „Schlußwort“ (142f) – , bei aller unvermeidlichen Unsicherheit, „ein Blick des Glaubens und der Hoffnung“ auf das Ganze in seiner Zukunft, ohne den die einzelnen Synodenthemen nicht zukunftsgerecht entscheidbar seien.

Rahners Denken im geschichtlichen Kontext
Wer Rahner nicht näher kennt, mag erstaunt sein, daß ein Theologe, statt den „unumstößlichen Wahrheiten“ der Glaubenslehre nachzugehen, sich futurologisch betätigt, sich also auf ein höchst unsicheres, verfängliches Feld wagt, wo er doch, scheint es, Laie unter Laien ist, nur ins Blaue hinein oder voraus raten, spekulieren kann und unvermeidlich – als einzig sichere Prognose – Prügel von all jenen erhält, denen seine Vorhersagen nicht gefallen. Darüber war Rahner sich im Klaren (Vorwort und I,1).

Wesentliches Merkmal von Rahners theologischer Gestalt ist sein „existenziell“ geprägtes Denken. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war das unangefochten dominierende Welt- und Menschenbild der kirchlichen Lehre das einer universalen, gestuften Wesensordnung. Darin war das Zeitliche, Geschichtliche, Veränderliche, Konkrete und Einzelne un-wesentlich, un-bedeutend. Dieses essentialistische Ordnungs-Weltbild wurde, wie so vieles, durch den Granaten- und Bombenhagel der beiden Weltkriege zerstört. Übrig blieb das auf sich selbst zurückgeworfene, seiner Geschichtlichkeit bewußte, die Endlichkeit erfahrende individuelle Sein. Nicht zufällig entstanden (schon nach dem 1.Weltkrieg) Entwürfe zur Philosophie der Person und der Existenz. Nicht zufällig wurden so auch in der Kirche die Themen Geschichte, individuelle Existenz, Gruppe, Gemeinde, Volk neu entdeckt und als eigenwertig und denkwürdig befunden. Neu gesichtet wurde auch der Umstand, dass Jesus in Botschaft und Verhalten auf seiten der einzelnen war und der biblische Gott dem Volk und einzelnen in besonderen Zeitmomenten (AT:`et; NT: kairós, hora) begegnet. In diese Zeit wuchs Rahner geistig hinein, die neue Sicht wurde ´seine Sache`. Schon 1946 betont er „das gnadenhafte Recht des Individuellen in der Kirche und für sie“ gegenüber dem „Institutionell-Allgemeinen“ und die Notwendigkeit individuellen Gehorsams für den charismatisch-frei wirkenden Gotteswillen. Der Einzelne müsse „über die von der Kirche verkündeten Gebote hinaus noch fragen: Herr, was willst du, daß ich tue?“ Aus dem charismatischen Gehorsam einzelner entspringen auch ´freie Gruppen` und Bewegungen in der Kirche. Die genannte Frage läßt sich (bestärkt durch die Erfahrungen der NS-Zeit) auch auf „die konkrete Kirche in dieser unserer Zeit“ anwenden: Hat sie „das Rechte getan“ – nicht im Sinne allgemeiner Moral, sondern im Blick auf den Gotteswillen für „diese unsere Zeit“? [8] Auf dieser Spur stellt Rahner 1957 fest, man könne „dem kleinen Mann nicht leicht klarmachen, was wir (über die Erhaltung des Bestehenden hinaus und außer gewissen schwierigen moralischen Forderungen und der Ablehnung des Kommunismus) eigentlich Neues wollen, wie wir uns die Zukunft denken, nicht die, die kommt ..., sondern die, von der wir wollen, daß sie werde, für die wir arbeiten und kämpfen“.[9] Wenig später, am Österreichischen Katholikentag 1962, kurz vor dem Konzil, fragt Rahner direkt: „Wissen wir eine Antwort, wenn einer uns fragt: Was wollt ihr Christen in den nächsten zehn Jahren konkret, was wollt ihr heute erreichen, was noch nicht ist, aber nach euch werden soll, und zwar hier und jetzt und nicht nur in der Ewigkeit?“[10] Er sah sich veranlaßt, die Apostel-Warnung „Den Geist löscht nicht aus!“ (1Thess 5,19) auf „diese unsere Zeit“ anzuwenden  (und erfuhr alsbald an eigener Person das, wovor er warnte [11]).

Vom Geist des Konzils
Rahners Ansatz wurde damals von höchster Stelle bestätigt. Papst Johannes XXIII. Appellierte an die Konzilsväter, nicht bloß nach den „Fehlentwicklungen“, sondern auch nach den  „Herausforderungen und Chancen (!) des modernen Zeitalters“ zu fragen. Er beklagte Vorhaltungen von „Unglückspropheten“, von Leuten, „die zwar voll Eifer“ seien, jedoch nicht sehr begabt für „Differenzierung und Takt“; sie sähen in den modernen Zeiten „nur Mißstände und Untergang“. „Wir aber müssen diesen Unglückspropheten widersprechen ... In der gegenwärtigen Ordnung der Dinge werden wir von der göttlichen Vorsehung zu einer Neuordnung der menschlichen Beziehungen geführt; diese entwickeln sich hin zur Erfüllung ihrer höheren und unerwarteten Pläne, gestützt auf die Handlungen der Menschen und über deren ureigene Erwartung hinaus“.[12] In den neuen Ordungen der neuen Zeit sah der Papst providentielle Impulse, „Vorzeichen der Hoffnung“ im Sinne der „Zeichen der Zeit“, zu deren Diagnose Jesus aufrief  (Mt 16,4); ihm sei bewußt, „daß der Augenblick gekommen ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die von ihnen gebotenen Möglichkeiten zu ergreifen und in die Zukunft zu blicken“.[13] Erkenntnis der „Zeichen der Zeit“ und zukunftsbewußt-vertrauendes Ergreifen der „von ihnen gebotenen Möglichkeiten“, sofern es um entsprechende Zurüstung der ganzen Kirche geht, nannte der Papst „aggiornamento“. Das Konzil machte sich die Idee des Gehorsams gegenüber den „Zeichen der Zeit“ zueigen und schrieb sie für die ganze Kirche fest: Die Kirche, das „Volk Gottes“, sei, um Zeugnis und Dienst für Christus erfüllen zu können, verpflichtet, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“; d.h. konkret, „in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es [das Gottesvolk] zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind“.[14]

Rahner war also durch eigene Vorarbeiten gut disponiert für das Grundanliegen des Konzils, vom päpstlichen Initiator vorgegeben, und für seine intensive Teilnahme an den Hintergrund-beratungen der Entscheidungsträger: Beides sensibilisierte ihn für den Blick auf „das eine Ganze“, den er bei der Würzburger Synode vermißte.

Kirche als geschichtlicher Prozeß
Kirche ist in ihrem tiefsten Wesen die gesellschaftlich verfaßte Gemeinschaft, in der Gottes Selbstmitteilung in Christus durch die Antwort von Glaube, Hoffnung und Liebe in und für die Welt gegenwärtig bleibt. Darin wird Gottes Selbstoffenbarung selbst ein „geschichtlicher Prozeß“, weil Gott selbst – in Christus und in seinem „Geist“ – „in die Geschichte ... eintritt“ und weil auch die Geschichte von „Wort, Kult, Bekenntnis der Gemeinde“ von eben dieser göttlichen Selbstmitteilung ermöglicht und getragen ist.[15]

Zwar sind „die bleibende Struktur“, Gesetz und Dynamik dieser geschichtlichen Größe ihr  von Anfang an mitgegeben, jedoch nicht als überzeitliche Idee, sondern – wie das Fleisch gewordene Wort selbst – als ´Entelechie` ihrer Werde-Geschichte, ihrer Selbstfindung, ihres geschichtlichen Zu-sich-kommens.

Da die Kirche also ein wirkliches Geschichtswesen ist, ist ihr nicht nur aufgegeben, in der Geschichte ihrem Anfang treu zu bleiben, sondern „ihr eigenes Wesen immer neu {zu} vollziehen“, damit die ihr eingestiftete Gottesgemeinschaft sich in der Kirchen-Geschichte immer mehr „enthüllt“.

Der gottgesetzte Anfang erspart dieser ihrer Geschichte, der wahren Kirchen-Geschichte, daher „nicht den Charakter des Wagnisses und der Überraschung trotz der Möglichkeit und Notwendigkeit von Planung und Voraussicht“.[16]

Die Kirche als menschlich vergemeinschaftete Gegenwart Gottes bewegt sich ja glaubend-hoffend-liebend auf ihr Ziel – Gott – zu  („Pilgerin“), d.h. im Ziel auf das Ziel hin, in Gott (Gnade) auf Gott hin.

Weil darum die geschichtliche Präsenz und Zukunft Gottes das Lebens-prinzip der Kirche ist, entlarvt und relativiert sie alle Götzen und falschen Absolutsetzungen in der Welt wie auch in ihr selbst. So ist „die Kirche  (..) gerade als sie selbst die Institution des Kampfes gegen jenes bloß Institutionelle, das beansprucht, Platzhalter und Repräsentant Gottes zu sein ... Denn ihre letztlich einzige Aufgabe ist es, Gott die Ehre zu geben und den Menschen zu retten, indem sie ihn aus seiner Definitivität immer neu hinauszwingt in die Kapitulation vor dem Gott, den man als wahren Gott nur hat, wenn man ihn  (real und nicht nur in Worten) als den bekennt, der über alles, was außer ihm ist und gedacht werden kann, unaussprechlich erhaben ist“.[17]

Daher ist es der Kirche auch verwehrt, eine bestimmte geschichtliche Gestalt ihrer selbst festzuhalten, als wäre sie die Gott nächste oder gar einzig von ihm gewollte (wie die „Unglückspropheten“ von Johannes XXIII. und jene Kreise meinen, für welche die Form der vorkonziliaren römischen Kirche unüberholbar, geradezu sakrosankt ist), und sich ihrer weiteren Wandlung zu widersetzen.[18] Nicht nur, weil die Zukunft auch für säkulare Futurologie zuletzt dunkel und unerrechenbar ist, sondern weil die Zukunft der Kirche im Letzten Gott selber ist, muß ihr Weg in die Zukunft ihr mit wachsender Deutlichkeit als Weg in das unumfaßbare, unverfügbare Geheimnis Gottes bewußt werden. Ist es aber so, hat dies praktische Konsequenzen für die „pilgernde Kirche“ auf ihrem Weg in die Zukunft.

Das Wagnis als das Sicherste
Handlungsprinzipien wie Vorsicht, Rücksicht auf das alte Bewährte, Geduld usw. haben in der Kirche ihre Bedeutung und ihr Recht. Sie sind aber nicht spezifisch christlich, sondern auch in der säkularen Welt zuhause.

Mir will „scheinen, daß die Amtskirche bei uns in konkreten Fragen doch zu sehr nur den Part der Konservativen spielt, Entscheidungen zugunsten der Zukunft sich meist nur unter Sträuben abringen läßt, der Entwicklung seufzend hinterdreinläuft“, bedauert Rahner öfter.[19]

Zwar sind die erwähnten Handlungsprinzipien (Vorsicht etc.) auch für die Kirche unentbehrlich. Doch die Neigung, sich am Gehäuse von Gestern oder Heute, an gewordenen Strukturen  (in der Annahme, sie seien, so wie sie [geworden!] sind, gottgewollt) anzuklammern, verkennt, daß der glaubende Gang in die Zukunft von Grund auf Exodus, Auszug, bedeutet „in das Land, das ich dir zeigen werde“ (Gen 12,1). Vollends bewahrheitet und bewährt hat sich diese Wagnisform beim Gekreuzigten, „der sich bedingungslos in die Hände des Vaters gab im Experiment seines Todes und nur so als der Auferstandene angenommen ist, und uns seinen Geist gibt, der weht, wo er will, nicht, wo wir wollen“. Unter diesem „Gesetz des Weges ins Weglose“ verfehlt ein „ängstlicher Traditionalismus“ die Berufung der Kirche.[20] „Wir glauben nur in der Theorie“, fürchtet Rahner, und vergessen, daß die Kirche „die Improvisation des [Heiligen] Geistes“ ist.[21] So fordert er – schon im Salzburger Vortrag –  von der Kirche den Mut zum Neuen; „Mut zum Kühnen“, „Mut zum Wagnis“, den „Tutiorismus des Wagnisses“.[22] Durch geistesgeschichtliche Umstände sei die Kirche zu Beginn der Neuzeit in eine defensiv-konservative Haltung geraten. Dies wirke sich aber inzwischen für sie gefährlich aus, denn die Menschheit entwickelt sich zivilisatorisch, wissenschaftlich und technisch weiter mit „ungeheurer Beschleunigung“ und die Kluft zur Entwicklung der Kirche werde ständig breiter. Ist aber, weil Gottes Heilswege himmelhoch über irdischem Denken und Planen steht, die Zukunft für die Kirche ohnehin unüberschaubar und dunkel, trägt der Glaubens-Weg der Kirche in die Zukunft per se Wagnischarakter.

Jede Entscheidung ist ein Wagnis. Läßt sich nun bei normalen Sachentscheidungen der Abstand  (das „Restrisiko“) zwischen Planung/Berechnung und tatsächlichem Gelingen/Erfolg weitgehend verringern („minimieren“), verbleibt jedoch ein spezifisches, unaufhebbares Risiko da, wo es nicht mehr um ´etwas`, sondern um das Ganze geht, sei es das Ganze individueller Existenz, sei es das Ganze der Kirche. Der Glaubende vertraut das Ganze einer anderen Freiheit an, der er als ihm nicht gefährlich, sondern heilsam-rettend sich überläßt und traut. Daher kann Glaube nur „als Mut“ Glaube sein.[23]

Gilt es für die Kirchenleitung nun (ähnlich wie für den einzelnen Christen) eine zukunftserhebliche Entscheidung zu fällen, die aus sachimmanenten Voraussetzungen nicht schon ableitbar ist, und geht es weiter darum, entweder das Bisherige, „Bewährte“, oder das Neue zu wählen, so ist – in Anbetracht auch der bedrohlich aufklaffenden Kluft zwischen Weltentwicklung und Kirchenentwicklung – das „Prinzip des Wagnisses“ unbedingt „das im Zweifelsfall sicherere“. Verglichen mit dem Votum für das Bisherige ist das Wagnis des Neuen, Unkalkulierbaren das Sicherere, heißt ´auf der sicheren Seite (Gottes!) zu sein`. Die gegenwärtige Situation wiegt, nach Rahner, so schwer, daß „gläubiger Wagemut bis an die äußersten Grenzen als das Sicherste“ gefordert ist. Die Kirche dürfe nicht fragen: „Wie weit muß ich gehen, weil es einfach von der Situation erzwungen wird“, sondern: „Wie weit darf man unter Ausnützung aller theologischen und pastoralen Möglichkeiten gehen, weil die Lage des Reiches Gottes sicher so ist, daß wir das Äußerste wagen müssen, um so zu bestehen, wie Gott es von ihr [Kirche] verlangt?“. Rahners Beispiel ist die ökumenische Verständigung.[24] Ein anderes ist die Frage der neuen Sozialgestalt der katholischen Kirche naher Zukunft, angesichts wachsenden Priestermangels und der Frage: Ist Kirche planbar? Was will Gott heute von uns? [25] In diesem und anderen Fällen „wäre im Zweifelsfalle in der heutigen Situation die radikalere, die mehr wagende, Neues mutiger inaugurierende Lösung die richtigere. Wenn in solchen Situationen dieser Tutiorismus des Wagnisses angewendet würde, d.h. wenn man von der Überzeugung ... ausginge, daß ... die beste Chance, alles oder wenigstens einiges zu gewinnen, nicht die Vorsicht, sondern der kühne Wagemut sei, dann würde sich doch wohl manche Überlegung in der Kirche anders gestalten, als es praktisch geschieht. Das Sicherste ist heute nicht mehr die Vergangenheit, sondern die Zukunft“.[26] Die Glaubensbasis dieser These zeigt auch der Satz: Die christliche „Botschaft muß im Leben ohne Rückversicherung gewagt (!) werden, dann zeigt sie, daß sie trägt und befreit“.[27]

So versteht Rahner auch das „oberste Gesetz“ des kirchlichen Rechtes: „das Heil der Seelen“ (Salus animarum suprema lex: CIC can. 1752).[28] Die Heilsökonomie der Ostkirche, auch historische Entscheidungen der Westkirche zeigen: diese „suprema lex“ läßt an Epikie sogar bei göttlichem Gesetz denken und z.B. Ehepartnern die Zweitehe gestatten, wenn der erste Partner unheilbar geisteskrank oder unauffindbar verschleppt (Sklavenhandel) wurde.[29]
Es fragt sich, ob die Scheu, an Struktur und Leben der Kirche etwas zu ändern  (Nebenwirkungen unkalkulierbar,Verluste möglich), nicht dazu neigt, an der Außengestalt von Sinn und Berufung der Kirche haften zu bleiben. Bedenkt man die Herkunft des Grundsatzes vom „Heil der Seelen“ – Maß aller anderen Bestimmungen – aus der pastoralen Praxis des Jesus der Evangelien, muß man sagen: Jesus verfuhr mit der geheiligten Tradition des Tempelkultes, der mehrheitlichen Auslegung der Tora, den frommen Sitten und Gebräuchen nicht im Stile bewahrender Vorsicht, wo immer es ihm um das bessere Verstehen Gottes und um Leben und Heil der Menschen zu tun war. Auch laufen die Ordnung der Tradition und das Gebäude der hohen Theologie ja stets Gefahr, vom lebendigen Gott „leer“ und als „Weltweisheit“ der Torheit überführt zu werden  (Jes 29,13f; Mk 7,6f Par; 1Kor 1,19ff).

Darüber hinaus sind sozialpsychologische Erkenntnisse zu beachten, bedeutsam für jede Gesellschaft –  Parteien, Wirtschaftsunternehmen, auch Kirchen. In jeder Gesellschaft treten immer wieder neue, unbekannte Situationen und Konstellationen auf. Der Mensch, nicht fähig, die neue Situation rational zu erfassen, sucht Hilfe bei Analogien und schreibt neuen Situationen und Problemen ähnliche Eigenschaften zu wie alten Problemen, die er glaubt, schon einmal gelöst zu haben; zieht vor zu handeln, wie es schon immer gemacht wurde. Dabei bleibt unerkannt, daß die Probleme neu sind. Die glorreiche Vergangenheit und die Erinnerung werden höher bewertet als die Tatsachen. Zudem kommen am Horizont sich abzeichnende, neue Situationen, wenn sie tatsächlich eintreten, zumeist schleichend, in kleinen Schritten, erscheinen so nicht als gravierend, als bloß geringfügige – also vernachlässigbare – Abweichungen von der Normalität. Personen in Leitungsverantwortung sind in der Regel zu weit entfernt von den tatsächlichen Vorgängen, nehmen sie distanziert-abstrakt, als Zahlen, Statistiken usw. wahr. So verbinden sie mit der Lage keine konkreten Gefühle, die wirksamere Entscheidungen anstoßen würden. Stattdessen reagieren sie auf Probleme bürokratisch, mit neuen Regeln, Geboten, Verboten, schließlich rational mit von Eigennutz bestimmten Verfügungen und Abgrenzungen. Dazu kommt die Neigung, Probleme kleinzureden oder totzuschweigen und zu versichern, es werde alles gut, so man sich an die Bewältigungsstrategie der Leitenden halte.[30]

Wo kirchlich Leitende „Gottes Hilfe“ einrechnen, vergessen sie nicht selten Gottes „Exodus“-Zumutung an Berufene – falls man, im Blick auf Gegenwarts- und Zukunftsfragen, überhaupt auf Gott und Evangelium setzt.und nicht mehr auf Sachzwänge und Finanzen. Die große Frage ist, ob die kirchliche „Kernidentität“ an einem überzeitlich-unveränderlichen Kirchen-Bild ablesbar ist oder mitbestimmt wird vom Hören auf providentielle Anrufe in neuer Situation, in geschichtlicher Stunde. Wenn dies, müßte man „zuerst nach den Spielregeln Jesu und in seiner Nachfolge Johannes` XXIII. die ´Zeichen der Zeit` lesen ... Im Dialog mit den Zeichen der Zeit und dem tradierten Auftrag, also an der Schnittstelle von Situation und Tradition“, wären dann konkrete „Leitbilder für kirchliches Handeln heute zu entwickeln.[31]

 
Strukturwandel der Kirche – Aufgabe ohne Chance?
Fragt man, weshalb Rahners Engagement für einen „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“ wenig Resonanz, zumal bei den Inhabern der Amtsvollmacht, gefunden hat, ist man auf ´Indizien` und Vermutungen angewiesen und muß zudem berücksichtigen, daß nur etwa 5% der inneren Vorgänge in Menschen bewußt sind. Sicher ist: unter den Zeitgenossen, mindestens im deutschsprachigen Raum, hat kein namhafter Theologe – mit Ausnahme von Hans Küng – so massiv und argumentativ für einen Strukturwandel der Kirche plädiert wie Karl Rahner, nicht aus ´Bastelsucht`, sondern in Sorge um die Zukunft der Kirche. Hatte er noch 1952, im Kölner Vortrag, betont, so rasch eine Überlegung – „also auch eine Zukunftsprognose“ – im Geist des Einzelnen verlaufe, so langsam, „u.U. ein paar Jahrhunderte“, brauche sie „im allgemeinen Geist der Zeit und somit in der realen Wirk-lichkeit“,[32] wurden seine Einlassungen später (wohl unter dem Eindruck des Konzils) drängender und nahmen die Gegenwart – z.B. die Synode – als Kairos, als die Chance. Die Strukturwandel-Schrift ist mit heißem Atem geschrieben, der sich noch heutigen Lesern mitteilt. Doch: Wer sich als Leser gedrängt fühlt, baut leicht Widerstand auf. Ein weiterer Punkt ist Rahners Denkstil. Sein spekulativer Impetus flößt etlichen Argwohn ein, er überspringe zu rasch Details, die konkrete Realität: ´Zu leicht, um wahr zu sein!` Die zupackende Art irritiert, erinnert sie an das Bewältigungs-Denken (von Balthasar) des Deutschen Idealismus. Daher lehnte ein augustinisch geprägter Theologe wie Ratzinger z.B. die  Rahner-Fries-Thesen zur Einigung der Kirchen ab: hier werde „mit ein paar kirchenpolitischen Operationen“ die Wahrheitsfrage übersprungen. Dahinter steht eine (der griechischen Klassik und dem Mittelalter zugewiesene) eher kontemplative Einstellung, die (heißt es) weithin verloren gegangen sei mit dem Aufkommen des Technik- und Industriezeitalters. Stattdessen habe der mit aggressivem Bewältigungsdenken und mit revolutionärem Weltveränderungswillen und –bemächtigungsverlangen ausgestattete Homo Faber die Bühne betreten. Ihm widerstrebt heute die Bewegung „Bewahrung der Schöpfung“ und warnt ihn, „daß er nicht alles tut, was er tun könnte – er könnte ja sich selbst und die Welt zerstören“, sondern das Maß von Sollen und Dürfen respektiert.[33] Schreckvorstellung für solches Denken und Fühlen ist nun, der Homo Faber könne auch im Gewand des Theologen auftreten und mit zupackendem Veränderungswillen auch die Existenz der Kirche  (natürlich ungewollt) gefährden, wo es doch heute vor allem auf ihre „Bewahrung“ ankomme. So wie sich der Präfekt in tiefe und gewachsene Geflechte in Glaube und Kirche, Mysterium und Tradition vertieft, fühlt man sich (obwohl er die Unvermeidlichkeit von Veränderungen einräumt) an die Vorsicht erinnert, mit der andere ein Biotop betrachten oder sich einem „Weltkulturerbe“ nähern.[34] Daher sein Kriterium für dienliche Theologie: „nicht selber bestimmen“ zu wollen, „was Kirche ist“. [35] Mit anderer Begründung weist er auch Rahners bekanntes Wort „Der Christ von Morgen wird ein Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein“ als zu anspruchsvoll ab: „Die Menschen bleiben immer gleich. Wir bleiben immer auch gleich schwach, wir werden also nicht alle zu Mystikern werden“.[36] Das ist nicht Rahners Thema; doch bemerkenswert ist hier, daß der eine mit der (vermeintlich immer gleichbleibenden) Schwäche der Menschen argumentiert, der andere mit dem Kairos und Gottes Gnade. Welche Argumentation ist nun ´realistischer`?

Man kann einen akademischen Standpunkt beziehen und sagen, die Kirche brauche beide, sich ergänzende, Denkweisen, die vorwärtsdrängende und die zurückhaltend-bewahrende. Mit Veränderungen aus pastoralem Grund-Satz tut man sich aber gegenwärtig schwer, wie z.B. die kürzliche Weigerung der Deutschen Bischofskonferenz zeigt, auf Anregung des ZdK und der VELKD den Pfingstmontag – oder einen anderen Feiertag – zum Feier-Tag der Ökumene umzuwidmen.

Sollte man, nach alldem, den Grundsinn von Rahners unbefangen-mutiger Situationsanalyse und seinen „Tutiorismus des Wagnisses“ nicht wieder einmal erwägen und würdigen ?

[1] Zu Rahners Engagement auf dem sog. „Deutschen Konzil“ vgl. auch H.Vorgrimler, Karl Rahner. Gotteserfahrung in Leben und Denken (Darmstadt 2004), 109-113.

[2] J.Ratzinger, zit. nach H.Vorgrimler, Karl Rahner (Anm.1), 127.

[3] K.Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance (Herderbücheri 446 – Freiburg/Br. 1972).

[4] Diese These – provozierendste Form: „Einen Menschen von Morgen für den Glauben zu gewinnen ist für die Kirche wichtiger, als zwei von Gestern im Glauben zu bewahren, die Gott mit seiner Gnade ... retten wird“ (54) – irritierte viele: „pastoral unverantwortlich“, mit Röm 14 unvereinbar. Doch ist sie keine pastorale Handlungsempfehlung, sondern Teilüberlegung missionskirchlicher Zukunftsstrategie, die auch die Frage beantworten muß, wo heute das eine verlorene Schaf zu suchen ist, dem der Hirt – die neunundneunzig zurücklassend – sorgenvoll, zugleich in Hoffnung auf große Freude, nachgeht, „bis er es findet“ (Q 15,47). Zur Differenz zwischen Strategie und Versorgung bestehender Gemeinden vgl. Rahners Klarstellungen in einem seiner letzten Interviews „Die ´winterliche` Kirche und die Chancen des Christentums“: Herder-Korrespondenz 38 (1984), 165-171, hier 167f. Die früheste von mir entdeckte Formulierung der These findet sich in dem am 24.9.1952 (!) vor Kölner Pfarrern gehaltenen (vom Erzbischöfl. Seelsorgeamt mit Sonderdruck vom 1.11.1952 begeistert verbreiteten) Vortrag „Die Chancen des Christentums heute“: „Ein missionarisch Neugewonnener aus einem schon wieder heidnisch gewordenen Milieu heraus ist, missionarisch gesehen, mehr wert als drei, die wir eben noch aus den altchristlichen Beständen traditionellen Christentums (fast möchte man sagen: Trachtenvereinschristentums) bewahren (um ihn oder seine Kinder dann doch zu verlieren, weil solche nicht schon ... gegen den Zeitgeist immunisiert sind ...)“. Der Satz (ohne 1.Klammerausdruck) steht auch im Essay  „Die Chancen des Christentums“ (Neufassung des Vortrags) in: K.Rahner, Das freie Wort in der Kirche – Zwei Essays (Einsiedeln 1953), 37-78, hier 77. Der Vortrag von 1952 enthält Rahners Situationsanalyse von 1972 schon in Grundzügen.

[5] Rahner hat diesen Vorschlag kurz vor seinem Tod nochmals aufgegriffen und ausführlicher dargestellt in: H.Fries/K.Rahner, Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit (Quaest. Disp. 100: Freiburg-Basel-Wien 1983), These II (Glaubensprinzip), 35-53. Ihr Hintergrund ist die von Fries behandelte These I (Grundwahrheiten). Vgl. auch These IVa (Petrusdienst/ Fries).- In dieser Form erregten die Vorschläge damals das Mißfallen des Präfekten der römischen Glaubenskongregation; als realitätsferne „Kunstfigur theologischer Akrobatik“ übergab er sie dem Papierkorb. Seine Position – und Differenz zu Rahner – macht ein späteres Interview deutlich: Auch in Zu-kunft werde die Pfarrei, zwar modifiziert, „die wesentliche Zelle des gemeindlichen Lebens bleiben“: Salz der Erde – Christentum und kath. Kirche an der Jahrtausendwende. Ein Gespräch mit P.Seewald (München 21998), 283. „Eine absolute, eine innergeschichtliche Einheit der Christenheit wage ich nicht zu hoffen“. In Anbetracht heutiger Brüche und Spaltungen in den Kirchen solle man „sich vor utopischen Hoffnungen hüten“ und „begreifen, daß wir in der Getrenntheit einig sein können in vielem. Ich glaube nicht daran, daß wir sehr schnell zu großen ´Konfessionsvereinigungen` kommen können“ (ebd, 258f).

[6] Zu deren – auf experimentellem Weg zu findenden – Eigenart rechnet Rahner unbefangen u.a. spezifische (auch verheiratete) priesterliche Gemeindeleiter (darunter möglicherweise auch Frauen) sowie aktive, die Gemeinde tragende Laien, die u.a. auch zum Verkündigungsdienst sowohl befähigt wie anerkannt sind (ebd).

[7] Nach fortgeschrittener Zeit kann die Würdigung der Thesen und Perspektiven Rahners natürlich nicht in  bloßer Reproduktion bestehen, als vielmehr in auswählender Aufnahme und differenzierender, spätere Entwicklungen einbeziehender Fortschreibung: z.B. E.Biser, „Glaubenskonflikte – Strukturanalyse der Kirchenkrise“ (Freiburg-Basel-Wien 1989) und „Glaubensprognose – Orientierung in postsäkularistischer Zeit“ (Graz-Wien-Köln 1991);  M.Kehl, Wohin geht die Kirche? Eine Zeitdiagnose (Freiburg-Basel-Wien 1996); aus anderer Sicht M.Lütz, Der blockierte Riese. Psycho-Analyse der kath. Kirche (Augsburg 1999).

[8] Vgl. K.Rahner, Der Einzelne in der Kirche, in: Stimmen der Zeit 139 (1946), 260-276, wiederabgedruckt in: Gefahren im heutigen Katholizismus (Einsiedeln 21950), 11-38. Am Ende des Kölner Vortrags (Anm.6) stellt er dem Priester und Amtsträger die Gewissensfrage, „ob er dem Gebot der Stunde, die man sich nicht aussuchen konnte, getreu war“ (Sonderdruck 28; Das freie Wort [ebd] 78). Ausführlicher: Das Charismatische in der Kirche, in: ders., Das Dynamische in der Kirche (Quaest. Disp. 5 – Freiburg/Br. 1958), 38-73.

[9] K.Rahner, Prinzipien und Imperative, in: Das Dynamische (Anm.9), 32; vgl. Den Entscheidungen nicht ausweichen, in: ders., Glaube, der die Erde liebt (Freiburg-Basel-Wien 1966 – Herderbücherei 266), 109-114.

[10] Löscht den Geist nicht aus! , in: Schriften zur Theologie VII (Einsiedeln-Zürich-Köln 1966), 77-90, hier: 82.

[11] Die Salzburger Rede mit der Klage über das jeglichem „Experiment“ abholde, „schon neurotisch werdende Sicherheitsbedürfnis“ des kirchlichen Apparates löste wohl die längst vorbereitete Maßnahme einer römischen „Vorzensur“ gegen Rahner aus, der in den Augen von Kurialen die Leute aufwiegelte, statt sie zum Gehorsam anzuhalten, eine Maßnahme, die Rahners Konzilsteilnahme verhindern sollte, aber mit Hilfe der Kardinäle König, Döpfner und Frings, der Paulus-Gesellschaft, sowie Bundeskanzler Adenauers entschärft werden konnte.

[12] Genauer Wortlaut bei L.Kaufmann/N.Klein, Johannes XXIII. Prophetie im Vermächtnis (Fribourg/Brig 1990)

[13] So in der Einberufungsbulle (Weihnachten 1961) und – ein letztes Mal – kurz vor seinem Tod. Näheres dazu bei Kaufmann/Klein (Anm.14), 25.

[14] Zitate aus „Gaudium et Spes“ (GS) = Pastorale Konstitution über Die Kirche in der Welt von Heute, Nr.4+ 11; zit. nach K.Rahner/H.Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium. Alle Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Zweiten Vaticanums in der bischöflich beauftragten Übersetzung (Freiburg-Basel-Wien 1966).- Zu diesem Thema: K.P.Fischer, „Heute, wenn ihr Seine Stimme hört“ – Beiträge zur Theologie des Kairos (Wien 1998).

[15] Vgl. dazu K.Rahner, Das Grundwesen der Kirche, in: Handbuch der Pastoraltheologie I (Freiburg-Basel-Wien 1964), 118ff.

[16] K.Rahner, Ekklesiologische Grundlegung § 3.5, in: Handbuch (Anm.17), 140-143.

[17] K.Rahner (Anm.18), 122.

[18] Diese Einsicht ist – vorerst nur unter dem Aspekt der Erneuerung – amtlich geworden: Die Kirche muß täglich den Weg der Umkehr und Erneuerung gehen: II. Vatikanisches Konzil, Dogmat. Konstitution über die Kirche Nr.8; Dekret über den Ökumenismus Nr.4; Texte bei Rahner/Vorgrimler (Anm.16).- Die französischen Bischöfe betonen in ihrem Brief an die Gläubigen: „Nous refusons toute nostalgie pour des époques passées ... Nous ne rêvons pas d`un impossible retour à ce que l`on appelait la chrétienté ... Bref, nous pensons que les temps actuels ne sont pas plus défavorables à l`annonce de l`Evangile que les temps passés“: Les Évêques de France: „Proposer la foi dans la société actuelle“ (Paris 1997), 20f. Situationsanalyse und Handlungskonzept des o.g. Briefes decken sich wesentlich mit denen, die Rahner in „Strukturwandel“ und schon früher geboten hatte! Weitere Parallelen zu Rahners Thematik unter Titeln wie Dieu et l`homme und Le mystère (ebd, II,1).

[19] Strukturwandel ... (Anm.5), 55.

[20] Über das Experiment im christlich-kirchlichen Bereich, in: K.Rahner, Chancen des Glaubens. Fragmente einer modernen Spiritualität (Freiburg-Basel-Wien 1971 – Herderbücherei 389), 242.- In Kontrast zu dieser Sicht steht z.B. J.Ratzingers etwa gleichzeitiger Vergleich – Vorwort zu „Einführung in das Christentum“ (München 1968) – des „Trends“ der Theologie „des letzten Jahrzehnts“ (die Konzilszeit also eingeschlossen! Und den „Unglücks-propheten“ nicht unähnlich) mit dem Weg des märchenhaften „Hans im Glück“, der sein Gold am Ende für einen Schleifstein eintauscht. Kann man dieses (Einfalt verhöhnende) Märchen vorbehaltlos und beliebig in den Raum von Glauben und Glaubensgeschichte übertragen und anwenden? Verkennt nicht jeder urteilende Vergleich vom Schiedsrichterstuhl ´über den Wolken` die eigene Geschichtlichkeit?

[21] Angst vor dem Geist, in: Chancen des Glaubens (Anm.22), 53f. 57.

[22] Löscht den Geist nicht aus! (Anm.12), 85.- Der Tutiorismus ist ursprünglich, wie auch z.B. der Probabilismus, ein traditionelles Moralsystem in der kath. Moraltheologie, dem es um den jeweils „sichereren“ (tutior) Maßstab einer sittlichen Handlung geht (für den traditionellen Tutiorismus ist das jeweils Sicherere das Gesetz).-

Von Rahner früh geahnt, zeigte sich in der katholischen Kirche der BRD etwa ab Mitte der Siebziger Jahre deutlich eine auf die „Herausforderungen der Zeit“ defensiv reagierende „Bewahrungs- und Rettungsmentalität“, vor der „der missionarische Impuls“ mit dessen „Glaubenskraft“ zurücktrat: K.H.Neufeld, Die Brüder Rahner (Freiburg-Basel-Wien 22004), 323.

[23] Vgl. K.Rahner, Glaube als Mut, in: Schriften zur Theologie XIII (Zürich-Einsiedeln-Köln 1978), 252-268.

[24] So schon im Salzburger Vortrag von 1962 „Löscht den Geist nicht aus!“ (Anm.12), 85; fast wörtlich übernommen und ausführlich erläutert in: K.Rahner, Die grundlegenden Imperative für den Selbstvollzug der Kirche in der gegenwärtigen Situation: Handbuch der Pastoraltheologie II/1 (Freiburg-Basel-Wien 1966), 7.Kap. §5, SS. 256-276, hier: 274ff.

[25] Zu diesem Thema z.B. R.Zollitsch, Aufbruch und Umbruch. Optionen für eine pastorale Schwerpunktsetzung in der Erzdiözese Freiburg (Freiburg/Br. 2003); dazu, kritisch-nachdenklich, G.Bausenhart, Ist die Kirche planbar? Theologisch-polemische Bemerkungen. In: Theologie der Gegenwart 2004/1, 57-66.

[26] So schon im Salzburger Vortrag, übernommen und verschärft (!) in dem unmittelbar nach dem Konzil (!) ver-öffentlichten Beitrag „Die grundlegenden Imperative“ (Anm.26), 276.- Im folgenden Beitrag „Pathologie des katholischen Christentums“ sieht der Autor A.Görres die Ursache für typische Fehlhaltungen wie Traditionalismus, Gegenwartsfremdheit, Verdächtigung des Neuen, Mangel an Mut zur Initiative u.a.m. in einem „untergründigen Mißtrauen gegen das Gute und gegen den Willen Gottes“: Handbuch (Anm.26), 277-343, hier: 315.

[27] Strukturwandel ... (Anm.5), Kap. „Kirche wirklicher Spiritualität“, 94.

[28] Z.B. Strukturwandel (Anm.5), 118. So kürzlich auch H.-J.Lauter, Planlos in die Zukunft. Zur Diskussion über den seelsorglichen Notstand, in: Christ in der Gegenwart Nr.26/04, 214.

[29] So unter dem Aspekt der Heilsökonomie B.Häring, Ausweglos? Zur Pastoral bei Scheidung und Wiederverheiratung. Ein Plädoyer (Freiburg-Basel-Wien 1989), 49-52.

[30] Vgl. dazu F.Schwarz, Wenn das Reptil ins Lenkrad greift. Warum Gesellschaft, Wirtschaft und Politik nicht den Regeln der Vernunft gehorchen (Reinbek 2004), bes. 168-177 (unter Bezug auf J.Diamond).

[31] P.M.Zulehner, Kirche im Umbau. Für eine Erneuerung im Geist des Evangeliums, in: Herder-Korrespondenz 58 (2004), 119-124, hier: 121.

[32] Die Chancen ... (Anm.6), 26; Das freie Wort ... (Anm.6), 75.

[33] Salz der Erde (Anm.7), 245. Ratzinger wird hier als Exponent eines Typs von Rahner-Kritikern angeführt.

[34] Der Unterschied erhellt auch an der Zölibatsfrage. Rahner: Wenn die Kirche nicht genug zölibatsbereite priesterliche Gemeindeleiter findet, „dann ist es selbstverständlich und gar keiner weiteren theologischen Diskussion unterworfen, daß sie auf diese Zölibatsverpflichtung verzichten muß“: Strukturwandel (Anm.5), 117. Ratzinger: „Man soll keine noch so tief ... begründete Lebensgewohnheit der Kirche für ganz absolut erklären ... Aber ich denke, ... eben aus der inneren Vision, die dem Ganzen zugrundeliegt, sollte die Kirche nicht glauben, daß sie leicht viel gewinnen wird, wenn sie zu dieser Entkoppelung [Zölibat/Priesterberuf] schreitet; sie wird aber auf jeden Fall verlieren“: Salz der Erde (Anm.7), 213. Hier die Scheu, eine tiefgründige Vision anzutasten, dort (aus dem „Tutiorismus des Wagnisses“) „selbstverständliche“ Bereitschaft, nach dem Gebot der Stunde zu fragen.

[35] Salz der Erde (Anm.7), 86.

[36] Salz der Erde (Anm.7), 284. Ratzinger läßt an dem Wort gelten, daß der künftige Glaube „etwas von Verinnerlichung erfahren“ müsse (ebd), zeigt damit aber auch, daß ihm Rahners „Mystagogie“-Konzept fremd ist.

Der Text wurde für unseren Kongress überarbeitet und aktualisiert.
Die Erstveröffentlichung ist nachzulesen in der "Orientierung" Nr. 23/24 vom Dezember 2004.

 

Dr. Ferdinand Kerstiens, Marl

Die Strukturen der Kirche müssen sich nach ihrem grundlegenden Auftrag richten. Dazu heißt es programmatisch in der Einleitung der Konzilskonstitution „Kirche in der Welt von heute“:

„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihrem Herzen Widerhall findet.“ (GS Nr.1)

Ich erinnere mich noch deutlich an die Überraschung und die Freude, als wir vor 40 Jahren diese Worte hörten und lasen. Wir sahen darin einen fundamentalen Wandel der Kirche, einen grundlegenden Paradigmenwechsel: Das erste Interesse der Kirche ist nicht mehr die eigene Selbstdarstellung in ihrer hierarchischen Gestalt oder die Vermittlung einer fertigen Botschaft, sondern ihre Solidarität mit den Menschen, mit ihrer Freude und Hoffnung, ihrer Trauer und Angst, vor allem der Bedrängten und Ausgegrenzten, der Armen und Armgemachten.

Auf einmal waren die Menschen nicht mehr bloß Adressaten einer fertigen Botschaft, die im Gehorsam anzunehmen war, sondern Partnerinnen und Partner in der gemeinsame Suche nach der Wahrheit des Lebens, von denen die Kirche erst einmal zu lernen hat, wo denn der Schuh drückt, um darauf im Sinne Jesu antworten zu können.

Auf einmal waren die Menschen nicht mehr bloß Objekte einer fertigen moraltheologischen Beurteilung (Verurteilung), sondern ihre Situation kam in den Blick, ihre Sorgen und Ängste, die im Hintergrund ihres Handelns standen.

Das erfordert natürlich ein sorgsames und wachsames Hinhören auf die Menschen: Wo sind ihre Freuden, wohin geht ihre tiefste Hoffnung, wovor haben die Menschen Angst, wo und aus welchen Gründen droht die Trauer oder die Resignation sie zu überwältigen, dass sie nicht mehr weiter können?

Wir sahen damals in diesem Stellungswechsel eine fundamentale Bekehrung unserer Kirche, einer Bekehrung zu den Menschen, die nicht Objekte kirchlichen Handelns sind, sondern Subjekte ihres Glaubens werden, -- für die Mitglieder der Kirche hieß das: Teil der königlichen Priesterschaft und des auserwählten Volkes, für alle Menschen: Entdeckung ihrer einmaligen Würde und ihrer Rechte, die ihnen keiner nehmen darf. Wir sahen darin eine neue Inkarnation, eine Menschwerdung der Kirche, die dringend anstand. Wir sahen darin die Nachfolge Jesu, der alle Herrlichkeit und Macht von sich tat, sich arm machte, Mensch unter Menschen, ihnen ganz nahe in Freude und Hoffnung, in Trauer und Angst, in Leben und Tod. Wir sehen das ja in vielen Berichten der Evangelien. Das meint genau dies, was wir in heutiger Sprache unter Solidarität verstehen, Solidarität mit allen Menschen, unabhängig ob sie zur Kirche gehören oder nicht.

Jesus

So war und so ist Jesus: Den Ausgegrenzten (vgl. Mk 3,1-6 und viele andere Stellen) stellt er in die Mitte, nicht um ihn bloß zu stellen, sondern um deutlich zu machen, wer für ihn, für seinen Gott in der Mitte zu stehen hat. So ruft er den Mann mit der verdorrten Hand in die Mitte. Bisher musste er am Rande sitzen, höchstens geduldet, aber ausgeschlossen. Der Mensch in der Mitte, der leidende, ängstliche, der ausgegrenzte, der höchstens mitleidig betrachtete Mensch. Jesus stellt diesen Menschen in die Mitte, damit keiner sagen kann, er habe ihn nicht gesehen. Die Wächter des rechten Glaubens und die Synagogenwärter verstummen ob dieser Botschaft. Voll Zorn blickt Jesus umher. Selten ist von diesem Zorn Jesu so deutlich die Sprache. So grundlegend ist sein Widerspruch zu seinen Gegnern. Ihnen geht es um die Aufrechterhaltung der alten Ordnung. Ihm geht um diesen Menschen, und deswegen geht es um seinen Gott, um den Gott auf der Seite der Menschen, um den Gott Israels, der Moses sagt: Ich habe die Klage meines Volkes gehört und sein Elend gesehen (vgl. Ex 3). Diesem Gott kann man nicht dienen, wenn man den Menschen, seine Freude und Hoffnung, seine Trauer und Angst aus den Augen verliert. Auch der Gegenpartei wird dieser grundsätzliche Konflikt deutlich: Sie gingen hinaus, um mit den Anhängern des Herodes zu überlegen, wie man Jesus beseitigen kann.

Die nachkonziliare Entwicklung

Doch die nachkonziliare Entwicklung der Kirche hat der Menschwerdung Jesu, dieser Bekehrung zu den Menschen nicht Stand gehalten. Es setzten sich wieder vielfach die Synagogenwärter und Gesetzeslehrer durch, getrieben von der Angst, durch die Öffnung für die Menschen könnte die Eindeutigkeit der Lehre und die hierarchische Einheit der Kirche in Gefahr geraten. Die Unterdrückung der Befreiungstheologie, die gerade aus diesem Anfangssatz der Konzilserklärung und aus dem Ernstnehmen der Not der Menschen ihre Kraft bekam, das starre Festhalten an einer alten Sexualmoral, die selbst angesichts von AIDS nicht ihre eigene Unmenschlichkeit wahrnimmt, die Verdächtigung aller kontextuellen Theologie in den verschiedenen Kontinenten, vor allem auch der Theologie von Frauen, die bleibende und immer wieder erneuerte Verurteilung von Homosexuellen, deren Freude und Hoffnung, Trauer und Angst man eben gerade nicht wahrnimmt, die Verweigerung des Priesteramtes für Frauen, das Festhalten am Zölibat und viele andere Entscheidungen versuchen, den Anfangssatz der Erklärung über die Kirche in der Welt von heute zum umgehen oder besser: ihn rückgängig zu machen. So zumindest haben es viele Gläubige empfunden, ich auch.

Wie hat also die Kirche auszusehen, wenn sie den Auftrag Jesu weiterführen und dem Eingangssatz der Konzilskonstitution gerecht werden will? Dazu hat Karl Rahner zwischen Konzil und Deutscher Synode in seinem Büchlein „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“ Vorschläge gemacht, die auch heute noch aktuell und wegweisend sind.