Einführungsreferat von Bernd Hand Göhrig
Liebe Freundinnen und Freunde,
wenn ich an einem Kongress teilnehme, möchte ich dort in den Referaten und Programmpunkten nicht das hören und sehen, was ich eh schon kenne. Ich erwarte neue Gesichter, kitzelnde und sogar prickelnde intellektuelle Anregungen, und die Chance, wichtige und mutmachende Kontakte knüpfen zu können. Und ich bin bereit, dasselbe zu geben.
Wenn wir als Ökumenisches Netzwerk einen Kongress organisieren, gehen wir dabei selbstverständlich bis an unsere Grenzen, um überzogenen Erwartungen dieser Art gefährlich nahe zu kommen - die Gefahr steckt im Detail, wie ein rascher Blick in das Programm zeigt:
Werden die PDS-Frau Gesine Lötzsch und der SPD-Mann Torsten Hilse im beginnenden Berliner Wahlkampf nur über den Moderator kommunizieren können?
Wie vertragen sich die Schwäbin Claudia Roth und der Schwabe Tobias Pflüger auf dem glatten Parkett christlichen Engagements?
Weiß Bischof Wolfgang Huber, dass hier morgen über die Entpolitisierung der Evangelischen StudentInnengemeinden informiert wird?
Weiß Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, dass Fanny Dethloff über ihm noch unbekannte Formen des Flüchtlingsschutzes sinnieren wird?
Und welcher inneren Logik folgt die Inanspruchnahme von Martin Luther King und Karl Rahner als Kronzeugen auf der Suche nach Perspektiven für das christliche IKvu-Engagement aus politischer Verantwortung?
Nun ja - es gehört unbestritten zu den vornehmsten Aufgaben der IKvu, das Denken in Differenzen als eine positive Errungenschaft der Aufklärung wach zu halten - und zwar ganz sicher nicht ohne ironischen Unterton: denn natürlich ist Kirche nicht "von oben", und sie ist auch nicht "von rechts" oder "von links" - und sie ist auch - unter uns gesagt - nicht von unten .... zumindest nicht nur.
Worum es an diesem Wochenende gehen wird, scheint offensichtlich: Nach 25 Jahren mit fulminanten Höhen und Tiefen einer alternativen Kirchengeschichte ersparen wir uns fast vollständig den Blick zurück. Diese nicht zu unterschätzende wichtige Aufgabe delegieren wir an unseren Webmaster, der auf der neuen Website an einer Kirchengeschichte von unten bastelt.
Wichtiger ist uns heute die Überprüfung und Feinjustierung der Handlungsperspektiven unseres Ökumenischen Netzwerks. Dazu braucht es viele, oder, wie es in einem Kommuniqué von Subcomandante Marcos aus Mexiko in der "Geschichte des einen und aller" heißt:
"Und so sahen die allerersten Götter, dass der eine notwendig war, um zu lernen und zu arbeiten und zu leben und zu lieben. Aber sie sahen auch, dass der eine nicht genug war. Sie sahen, dass man alle brauchte, um die Welt in Gang zu bringen. Und so kam es, dass die ersten Götter ganz schön weise wurden. Nicht, weil sie viele Dinge wussten oder weil sie viel von einer Sache wussten. Sondern weil sie verstanden, dass der eine und dass alle notwendig und ausreichend sind."
Ob wir alle im Verlauf dieses Kongresses "ganz schön weise" werden, darauf bin ich schon sehr gespannt. Ganz sicher werden wir - gemeinsam mit unseren referierenden Gästinnen und Gästen - dort einhaken, wo eine christliche linke Politik heute Handlungsbedarf sieht. Ein rascher Blick an den Anfang kann das verdeutlichen:
1984, im Vorfeld des Münchner Katholikentages von unten, umriss Johannes Schnettler die Handlungsperspektiven der jungen IKvu so:
"gegen die Wirklichkeitsferne und verkrusteten Strukturen weiter Teile der Kirche die »evangelischen« Alternativen der Pluralität und Offenheit, der prophetischen Kritik an den Zuständen von Kirche und Gesellschaft und die Solidarität mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten setzen". (13)
Die Umsetzung dieser Großziele wurde für ihn greifbar in der praktischen Erfahrung der Katholikentage von unten:
"Frauen und Männer arbeiten ohne Unterschied in Rang und Aufgabe gleichberechtigt zusammen; Christ(Inn)en legen Zeugnis von ihrem Glauben ab durch praktische Solidaritätsarbeit, im Widerstand gegen die Rüstung, im Kampf gegen die Zerstörung der Schöpfung; priesterlose Gemeinden entdecken ihr biblisches Selbstbewusstsein und fordern bewährte Christ(Inn)en als Gemeindeleiter(Innen); Frauen entdecken mit der feministischen Theologie neue Dimensionen der Rede von Gott; materialistische Bibellektüre verschärft die Interpretation der Schrift als Frohe Botschaft für die Armen; Menschen unterschiedlicher Konfession arbeiten Hand in Hand; homosexuelle Menschen fordern ihr Recht auf Würde und Achtung der Person und Anerkennung ihrer Sexualität ..." (41)
In all diesen Praxisfeldern haben die über 90 Mitgliedsgruppen in der 25-jährigen IKvu-Geschichte ihr politisches Verantwortungsbewusstsein geschärft. Doch inzwischen sind natürlich andere Themen hinzugekommen:
das Eintreten für Flüchtlinge etwa;
und das Bemühen, den im Globalisierungsdiskurs immer wieder vergessenen Kontinent Afrika ins Zentrum zu stellen;
der vergangenheitspolitische Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus;
auch die Problematisierung einer christlichen Identität Europas;
und natürlich der Globalisierungsdiskurs;
und immer wieder die Reflexion über den basso continuo "Widerstehen gegen Unrecht" - so der Titel des Themenzentrums in der Zionskirche am Prenzlauer Berg während des Ökumenischen Kirchentages in Berlin.
Wie wir unser Engagement auch in Konkurrenz zu staatlichen und kirchlichen Instanzen begründen und auf welche Traditionen wir zurückgreifen, wie wir kreativ politische Instrumente nutzen und konkrete Strategien entwickeln können - stets natürlich mit dem erklärten Ziel einer Korrektur staatlicher und kirchlicher Ungerechtigkeiten, nicht als Selbstzweck - dies wird uns in diesen Tagen und darüber hinaus beschäftigen. In diesen Zusammenhang gehören auch Fragen wie: "Wer sind unsere Verbündete?" und "Wer sind eigentlich unsere Gegner?" und "Sind wir als ChristInnen noch geübt genug im Konflikt: zum Beispiel für den Schutz für Flüchtlinge, der heute leichter in Konflikt mit dem Staat führt - endet hier die politische Verantwortung von ChristInnen?"
Dass hier übrigens konfessionalistische Engführungen in der Sache überhaupt nicht weiterführen, wie sie seit der Vorbereitungsphase des ökumenischen Kirchentages gleichsam als Nebenprodukt in einer Art "Ökumene von oben" von den Kirchenleitungen bis heute gern kultiviert werden, ist unter uns sicher unstrittig; deshalb vernetzen wir uns ökumenisch.
Auch aus diesem Grund gehören zum Programm unseres Kongresses - neben den bereits zu Anfang von mir zitierten Beiträgen - die grundsätzliche Anfrage von Peter Bürger an beide Kirchen: Wie haltet ihr´s mit der Friedensfrage? und der Bericht von Elisabeth Raiser von der 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Porto Alegre und: die nicht zu unterschätzende musikalische Fundierung durch Lieder aus der internationalen Ökumene durch Flois Knolle-Hicks.
So sind wir hoffentlich auf einem guten Weg, "Schritt für Schritt ins Paradies" - um Rio Reiser zu zitieren, "... das Gerechtigkeit und Frieden sich küssen!"
Und wir wissen auch: letztendlich kommt es zum Kuss nur durch Glaube und Hoffnung und Liebe - oder in den Worten eines Chanson der Comedian Harmonists, sozialkritisch und utopieversessen und zukunftsoptimistisch:
"So ein Kuss kommt von allein,
nur verliebt braucht man zu sein,
ob du arm bist, ob du reich bist,
ob du erster Klasse, zweiter Klasse, dritter Klasse fährst!"