Impulsreferat von Claudia Roth
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Frauen und Männer,
liebe Freundinnen und Freunde von der Initiative Kirche von unten,
vielen Dank für die Einladung zum Jubiläumskongress nach Kreuzberg – und für die Möglichkeit, hier sprechen zu dürfen. Das ist für mich eine Freude und Ehre - und auch eine Herausforderung, der ich mich sehr gerne stelle.
25 Jahre Kirche von Unten – der Kongress war ja schon für letzten September geplant. Aber die Politik kam bei der Terminplanung dazwischen - mit der Bundestagswahl!
Jetzt haben wir also 26 Jahre Kirche von unten – das ist noch ein Grund mehr für eine engagierte und nach vorne gerichtete Diskussion, hier in der Heilig-Kreuz-Kirche. Ich würde mich freuen, wenn der Kongress ein großer Erfolg wird.
Ein Vierteljahrhundert Kirche von unten – da ist mir sofort das Vierteljahrhundert eingefallen, das die Grünen nun bestehen. Die Gründung der Grünen Partei und die der Initiative Kirche von unten – das war ein gesellschaftlicher Aufbruch, das lag förmlich in der Luft.
Es war eine Zeit,
in der soziale Netzwerke entstanden sind,
in der Umwelt und Minderheiten eine Stimme bekommen haben,
in der Bewegungen von unten ihre Ansprüche angemeldet haben, weil sie sich in verkrusteten und verknöcherten Verhältnissen nicht mehr wieder finden konnten.
Es war die Zeit, in der 1-Welt-Läden entstanden sind, die den Zusammenhang von lokal und global herausgestellt haben – den Zusammenhang von dem, was hier und an anderen Orten der Welt geschieht. Heute ist die Globalisierung die große Epochenfrage – damals waren es einige wenige, die gesehen haben, welche Bedeutung das Thema hat.
Es war auch die Zeit, in der Frauen nicht mehr akzeptiert haben, dass Gleichberechtigung nur auf dem Papier steht - in Staat, Kirche und Gesellschaft.
Und ich weiß auch genau, dass es die Kirchentage von unten waren, die den Grünen erste Auftrittsmöglichkeiten in kirchlichen Zusammenhängen gegeben haben.
Und ich vergesse auch nicht die vielen gemeinsamen Anliegen, die uns seither verbinden. Ein solches Anliegen, das mir sehr am Herzen liegt, hat gerade hier, in der Heilig-Kreuz-Kirche, einen besonderen Ort.
Hier sitzt der Verein Asyl in der Kirche, der mit Pfarrer Jürgen Quandt seit vielen Jahren Flüchtlinge unterstützt und öffentlich vertritt. Das ist eine ganz herausragende Arbeit die weit über Berlin hinaus weist, das ist ein Beispiel für unser ganzes Land.
Asyl in der Kirche
das meint Schutz und Unterstützung der Schwächsten in der Gesellschaft
das meint Zivilcourage - auch dort, wo Politik sich aus der Verantwortung zieht
das ist praktisches Engagement für den Nächsten
und das ist Eintreten für die Verfassung, für den Grundwert der Menschenwürde
das ist wirklicher, gelebter Patriotismus.
Patriotismus findet man nämlich
bei denen, die sich für die Schwächsten im Land engagieren
und nicht bei denen, die Ausländer-Raus! brüllen
oder im Nadelstreifenanzug und mit gedämpfter Stimme Ausländer-Raus-Politik betreiben.
Die Heilig-Kreuz-Kirche ist ein Ort gegen die Entrechtung des Rechts. Deshalb ist sie genau der richtige Ort für die Konferenz.
Liebe Freundinnen und Freunde,
wir sind in der Heilig-Kreuz-Kirche auch an einem Ort, an dem der Zusammenhang von Kunst, Kultur und Migration groß geschrieben wird. Und das ist ein heißer Tipp für alle Kunstinteressierten: Die Kunstauktionen zu Gunsten von Flüchtlingen und Migranten hier in der Kirche sind Spitze! Ich habe das jeden Tag vor Augen, weil ich meine kleine Elvira-Bach-Sammlung hier erworben habe. Wer hier Kunst kauft, tut das absolut Richtige mit seinem Geld!
Und ich möchte auch noch auf einen ganz besonderen „pfingstsonntäglichen“ Geist hinweisen, den man hier spüren kann – nämlich bei einem der größten, friedlichsten und kreativsten Feste, das es in Deutschland gibt: Beim Karneval der Kulturen, mit Umzug und Straßenfest am Pfingstwochenende.
Eine Million Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen kommen hier zusammen, um friedlich zu feiern. Und es ist eine höchst lebendige Kultur, die hier rund um die Kirche zu erleben ist, eine Kultur, die getragen wird von hunderten von Initiativen. Das ist der Geist von Verständigung, den wir dringend brauchen in diesem Land. Und – mit Verlaub: Das ist die Weltoffenheit, die dem Exportweltmeister Deutschland gut ansteht.
Wenn ich das betone, dann bin ich auch gleich bei meinem Thema für den heutigen Abend nämlich beim Verhältnis von Ethik und Politik, beim Verhältnis zwischen den Werten, die uns orientieren und dem mitunter „schmutzigen Geschäft der Politik“ - wie die Veranstalter das in ihrer Ankündigung genannt haben.
Es gibt viele Seiten von Politik, die man mit Fug und Recht kritisieren kann. Aber es gibt eine Seite, die ich mit allem Nachdruck als schäbig bezeichne – und ich möchte das gleich am Anfang herausstellen: Schäbig ist Politik, die die Probleme der Gesellschaft auf Schwache und Randgruppen abladen will. Und genau einen solchen Versuch haben wir in den letzten Landtagswahlkämpfen wieder einmal erleben müssen.
Es ist erschreckend, wie sich einige Politiker auf Migranten – vor allem auf Türken eingeschossen haben. Und wie sie Migranten aus islamischen Ländern mit einem Muslimtest traktieren wollen.
Das ist Generalverdacht pur. Das ist grundrechtswidrig. Das verstößt gegen Artikel 3, Abs. 3 GG, wonach niemand wegen seiner Abstammung und seines Glaubens benachteiligt werden darf. Und es verstößt gegen Artikel 5 GG, der Meinungsfreiheit garantiert. Und es verstößt gegen die UNO-Konvention gegen Rassendiskriminierung.
Ich wundere mich schon sehr, wie diejenigen, die das Grundgesetz abfragen wollen, das in einer grundgesetz- und völkerrechtswidrigen Weise tun. Und noch verlogener ist es, wann man solche Aktionen als Integrationsmaßnahme verkaufen will.
Es geht um Ausgrenzung und Zurückweisung, aber gesprochen wird von Aufnahmebereitschaft und Entgegenkommen.
In der Psychologie gibt es für ein solches doppeldeutiges Verhalten einen präzisen Begriff: Das ist double-bind! Das ist genau die Psycho-Mühle, mit der man Menschen in den Wahnsinn treibt.
Wer Entgegenkommen heuchelt, in Wirklichkeit aber ausgrenzt, dem geht es nicht um Integration, sondern um populistische Stimmungsmache. Und das ist es, was wirklicher Integration am meisten im Wege steht.
Leider gibt es sehr viele „Doppeldeutigkeiten“ im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten.
Ich fand es sehr gut, dass sich so viele hier in Deutschland für den zum Christentum konvertierten Afghanen Abdul Rahman, eingesetzt haben. Und dass dieses Engagement erfolgreich war, ist ein großer und wichtiger Erfolg.
Aber es geht doch nicht an, das im gleichen Moment Flüchtlinge aus Afghanistan bei uns kaum eine Chance haben, als politisch oder religiös verfolgt anerkannt zu werden und Hamburg afghanische Hindus abschiebt.
Was für eine Schizophrenie hier herrscht, verdeutlicht auch der Fall der jungen Kurdin Hayriye Aydin, die vom Bundespräsidenten empfangen wird, weil sie als Vorbild für gelungene Integration gilt. Zur gleichen Zeit droht der Berliner Innensenator Körting ihrer Familie mit der Ausweisung in eine Region, die nicht ihre Heimat ist.
Und mehr als doppelbödig ist es, wenn die Union - zurecht - die Sprachförderung von Migranten einfordert, die unionsregierten Länder sich dann aber aus der Finanzierung der Sprach- und Orientierungskurse zurückziehen – und Innenminister Schäuble die Bundesmittel hier um ein Drittel kürzen will.
Das ist Integrationspolitik auf Kosten von Flüchtlingen und Migranten, auf Kosten der Integration. Das ist Lukas 18,11: das ist Pharisäertum! Wir brauchen aber keine Pharisäer – schon gar nicht in der Integrationspolitik. Was wir brauchen, ist eine Integrationsoffensive in der Bildung und Ausbildung, beim Zugang zu Arbeit, bei der politischen und sozialen Teilhabe.
Das ist es, was dringend ansteht in dieser Zeit!
Liebe Anwesende,
das Verhältnis von Ethik und Politik, um das es mir heute Abend geht, treibt mich schon seit vielen Jahren um. Meine Grundposition ist ganz einfach. Ich glaube, dass „wertfreie“ Politik, Politik ohne Bindung an eine humanistische Moral und die universalen und unteilbaren Menschenrechte in den Abgrund führt.
Der Ansicht, dass es für jedes Problem eine „ethikfreie“, technische Lösung gibt, stehe ich sehr kritisch gegenüber.
Die heutigen Möglichkeiten, die Reichweite unserer Eingriffe in die Umwelt, die Vernichtungskapazitäten, die wir angehäuft haben sind so immens, dass sie ohne eine Rückbindung an eine humanistische Moral nicht zu bewältigen sind. Technischer Fortschritt ist nicht per se gut. Und es geht auch nicht nur um quantitative Kriterien. Wachstum und Entwicklung bestimmt sich heute vor allem qualitativ.
Es ist Hybris, ein Irrglaube in der modernen Welt, dass die Menschen die Natur vollständig beherrschen können. Die Wirbelstürme und Überschwemmungen der letzten Jahre haben uns wieder die Grenzen der Machbarkeit aufgezeigt.
Moral muss einer solchen Hybris, muss dem Machbarkeitswahn Grenzen setzen. Und dafür ist das Bündnis von Akteuren der Zivilgesellschaft – und gerade auch das mit Christinnen und Christen wichtiger denn je.
Ich denke hier an die Atomkraft: Am 26. April jährt sich Tschernobyl zum 20. Mal.
Ich denke an BSE, wo aus pflanzenfressenden Tieren Fleischfresser gemacht wurden – aus Profitgründen!
Ich denke an die Gentechnik, wo niemand abschätzen, welche Folgen der Aussaat von gentechnsich veränderten Pflanzen hat.
Und ich denke an das Klonen von Lebewesen, was bei mir apokalyptische Vorstellungen freisetzt.
Aber ich weiß auch, dass ethisch-moralische Bewertungen in vielen Bereichen nicht einfach sind. Ja, das Dilemma ist vielerorts der Normalfall: Was immer man tut, es verstößt gegen Ansprüche, die zu Recht erhoben werden.
Die „Antigone“ von Sophokles ist hier ein klassisches Beispiel. Antigone will ihren toten Bruder bestatten. Doch dieser gilt als Verräter am Staat. Staatsräson und Familienpietät geraten in jenen tragischen Widerspruch, der für die ganze Gattung der Tragödie bezeichnend ist.
Berechtigte ethisch-moralische Ansprüche kollidieren heute in vielen Bereichen - zum Beispiel bei der Präimplantationsdiagnostik. Wir dürfen uns keine Entscheidung darüber anmaßen, was „lebenswertes Leben“ ist. Gleichzeitig dürfen wir das Selbstbestimmungsrecht der Frauen nicht übergehen.
Das moralische Dilemma betrifft Politik gerade auch deshalb, weil sie den Kopf nicht in den Sand stecken darf. Politik hat ein Mandat zur Problemlösung - und nicht zur Problemflucht. Sartre hat dazu ein berühmtes Drama geschrieben: „Die schmutzigen Hände“. Die Notwendigkeit zum Handeln im moralischen Dilemma konfrontiert stets mit der Frage von Schuld. Wer im Dilemma handelt, läuft Gefahr, sich die Hände schmutzig zu machen, weil er zwangsläufig gegen berechtigte Ansprüche verstößt.
Handlungsnotwendigkeiten dienen aber oft auch zur Entschuldigung von verantwortungslosem Handeln – gerade Sartre hat das gesehen: Wo angeblich kalte Notwendigkeit herrscht, da kann man sich der Freiheit leicht entledigen - man handelt scheinbar gezwungenermaßen.
Genau das war die Argumentation vieler Nazischergen. Sie wollten nur Befehlen gefolgt sein und leugneten jeden eigenen Handlungsspielraum. Auch Eichmann zog sich in seinem Prozess in Jerusalem auf eine solche Position zurück. Die Forschung hat inzwischen gezeigt, wie verlogen das war.
Und es ist gerade dieser absolute Nullpunkt von Moral, die Schreckensherrschaft der Nazis, die uns eine solche Flucht aus der Verantwortung verbietet.
Liebe Anwesende,
der Versuch, Politik und Ethik zusammen zu bringen, wird manchmal heftig kritisiert. Die Rede ist dann immer von naiven „Gutmenschen“, von romantischen, altmodischen, vorgestrigen Träumern, von notorischen „Weltverbesserern“, oder von engstirniger „political correctness“.
Und man stellt einer solchen „Irrealpolitik“, die an moralischen Ansprüchen festhält, eine Realpolitik gegenüber, die nur noch pragmatisch entscheidet.
Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich bei solchen Kritiken manchmal mit gemeint bin. Und ich bin mir sicher: Auch viele Aktive aus der Kirche von unten waren solchen Anwürfen schon ausgesetzt.
Wie sehen die Kritiken an uns „Gutmenschen“ näher aus? Ich sehe hier drei Positionen. Die Kritik an der Verbindung von Politik und Ethik kommt
1) von der politisch konservativen Seite.
Eine kam z.B. von Franz-Josef Strauß, der zwar einer Partei mit einem „C“ im Namen vorstand, aber gleichzeitig der Meinung war, daß man mit dem Evangelium keine Politik machen könne.
Gegenwärtig wird diese Kritik auch im Zusammenhang mit der Debatte um „Deutsche Leitkultur“ vorgebracht. Die „Gutmenschen“ – so wird hier gesagt - blieben bei einer angeblich unverbindlichen humanistischen Moral stehen. Sie hätten nicht begriffen, dass unser Gemeinweisen deutsch-nationale Sittlichkeit als Fundament benötigt.
Mit Blick auf diese Kritik sage ich nur:
Viel Feind, viel Ehr!
Diese Auseinandersetzung führe ich sehr gerne und offensiv!
Mein Ausgangspunkt ist auch hier das Grundgesetz. Der entscheidende Grundsatz wird dort gleich im Artikel I, Absatz 1 benannt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist das zentrale Prinzip des Grundgesetzes. Und das ist mit voller Absicht kein nationalkulturelles, sondern ein universalistisches Prinzip. Es geht um die Würde „des Menschen“ und nicht um die des „deutschen Menschen“!
Wenn der Artikel I das Prinzip der Würde herausstellt, dann liegt darin auch ein dauerhafter Auftrag an Politik. Politik muss sich stets darüber Rechenschaft ablegen, ob sie diesem Artikel auch wirklich umfassend gerecht wird. Hier liegt die Aufgabe für eine lebendige Diskussion über die Werte unserer Verfassung - hier und nicht in einer nationalistisch eingefärbten Debatte über Leitkultur.
Und mit Blick auf die Würde des Menschen gibt es sehr aktuellen Diskussionsbedarf:
Z. B. mit Blick auf die schlimmen Versuche einer Aufweichung des Folterverbots, den unter anderem Oskar Lafontaine in der Bild-Zeitung unternommen hat,
bei Debatten um Gleichheit und Diskriminierung,
beim Versuch, Alte, Behinderte, Juden und Moslems, Lesben und Schwule aus dem Antidiskriminierungsgesetz herauszuwerfen
oder mit Blick auf eine Politik, die den Wert der Familie beschwört und gleichzeitig den Familiennachzug erschwert.
2) Eine zweite Kritik am Zusammenhang von Ethik und Politik geht aus von einer ironisch-ästhetischen Lebenssicht. Eine solche Sicht tritt heute unter dem label „Generation Golf“ oder „Spaßgeneration“ an. Sie betrachtet Ethik, politische Emanzipation oder die „68er“ als „megaout“.
Auf diese Position trifft man manchmal in Talkshows und im Feuilleton. Ihr steht inzwischen eine jüngere „Generation Globalisierung“ entgegen, die die Spaßpolitik heftig kritisiert.
Die Tradition der ironisch-ästhetischen Kritik geht zurück auf Nietzsche. „Gutmenschen“ - das waren für ihn die Christen und Sozialisten des 19. Jahrhunderts. Ihre Anschauungen galten Nietzsche als lebensfeindlich und er wollte sie durch eine Ästhetik eines Übermenschen ersetzen: „Übermensch“ - das ist der Gegenbegriff. Es geht um eine Moral der „Vornehmen“ und „Überlegenen“, die sich über die Gleichheitsansprüche der „Gutmenschen“ hinwegsetzt.
Die ästhetisch-ironische Sichtweise hat aber auch eine spielerische Seite. Sie hat auch ein Gespür für die Vielfalt der Perspektiven - und für die Möglichkeit, die Perspektive zu wechseln. In dieser Hinsicht steht sie gegen Dogmatismus und Rechthaberei. Das finde ich sympathisch – und in unserer pluralen und multikulturellen Welt ist das auch sehr zeitgemäß.
Nur: Ich möchte genau dieses Spiel der Vielfalt schützen und aufrechterhalten – z.B. gegen das Wolfsgesetz, nach dem der Stärkste, der Übermensch obsiegen soll.
Der Schutz von Vielfalt geht nicht zusammen mit einer Moral des Übermenschen. Wir brauchen vielmehr eine Politik und Moral des Respekts und der wechselseitigen Anerkennung - eine Moral, die Andersheit nicht überwältigt, sondern auf der Grundlage gleicher Rechte akzeptiert.
Und Anerkennung ist in meiner Sicht dabei noch stärker als Toleranz. Mit Anerkennung wird auch eine konflikthafte Seite betont, nämlich der „Kampf um Anerkennung“, die Notwendigkeit, sich für Anerkennungsansprüche einzusetzen:
Zum Beispiel in der Frauenbewegung: mulier tacet - das darf heute nicht mehr gelten – auch in der Kirche nicht!
Einen Kampf um Anerkennung haben wir auch in der Lesben- und Schwulenbewegung
oder bei Migrantinnen und Migranten.
Es geht um politische, soziale und kulturelle Teilhabe in vielen Bereichen unserer Gesellschaft - es geht um Basisdemokratie!
3) Eine dritte Position, die Politik und Ethik voneinander trennen will, ist die technokratische Position. Sie ist das politische Gegenstück zum Technizismus. Die technokratische Politik glaubt, dass sie Politik nur aus der inneren politischen Systemlogik heraus formulieren kann. Politik hat dann nur noch wenig mit Ethik und Moral zu tun. An erster Stellen stehen dann nicht mehr legitime Ansprüche von Menschen, sondern superkomplizierte Systeme, denen wir uns angeblich zu beugen hätten.
Ich teile diese Position nicht, aber ich möchte sie auch nicht unterschätzen. Fachpolitik ist tatsächlich eine hoch arbeitsteilige Angelegenheit. Für fast jedes Gesetz im Bundestag benötigen wir wissenschaftliche Expertisen, Gutachten, große Anhörungen.
Aber auch wenn Politik kompliziert wird, darf Ethik nicht einfach über Bord gehen. Die ethische Debatte muss sich vielmehr so weit ausdifferenzieren, dass sie an die Probleme der Fachpolitik heranreicht. In einigen Bereichen, z.B. in der Gentechnik-Debatte, ist das ja schon der Fall. Ein solches differenziertes Zusammenspiel von Ethik und Politik wird immer wichtiger.
Liebe Freundinnen und Freunde,
in der Vorbereitung zum heutigen Abend habe ich darüber nachgedacht, wie wichtig christliche Werte für mich sind.
Es gibt hier eine lebensgeschichtliche Seite, die nicht immer angenehm ist. Ich habe große Kämpfe und Auseinandersetzungen mit der „Kirche von oben“ erlebt - vor allem mit der katholischen Amtskirche. Dabei ging es oft um Ausgrenzung und Stigmatisierung. In der Kritik, die ich hier habe, weiß ich mich einig mit vielen aus der Kirche von unten:
Nicht akzeptieren kann ich die Bekämpfung der Befreiungstheologie,
ebenso wenig wie die untergeordnete Rolle der Frau im Katholizismus
und eine bigotte Sexualmoral, die Homosexuelle diskriminiert
und den Gebrauch von Präservativen verbietet und damit der rasenden Verbreitung von Aids Vorschub leistet.
Nicht akzeptieren kann ich eine Position, für die Liebe ohne Fortpflanzung eine Sache des Teufels ist!
Ich kann aber nicht verhehlen, dass es auch auf der protestantischen Seite eine „Kirche von oben“ gibt, mit der ich meine Probleme habe – leider auch ganz aktuell - in der Frage der Integrationspolitik.
Während man von katholischer Seite hier besonnene Töne hört, z.B. von der Initiative „Pax et Justitia“, die sich gegen eine Vereinnahmung des Christentums durch die unsägliche Leitkulturdebatte ausspricht, höre ich aus höheren Gefilden des Protestantismus jetzt öfters einen zackigen Tonfall – vor allem gegenüber Muslimen – so, wie er jetzt auch bei rechten Politikern Mode ist.
Eine Ausgrenzung von Muslimen im Namen des Christentums wäre eine schlimme Entwicklung. Und eine doppeldeutige Rede, die Integration sagt und Ausgrenzung meint, wäre eine Heuchelei, die sich mit christlichen Werten nicht verträgt.
Aufgrund meiner problematischen Erfahrungen mit der Kirche von oben bin ich sehr froh, dass es die Initiative Kirche von unten gibt. Und ich weiß auch, dass die christlichen Werte, die bei der Kirche von unten im Mittelpunkt stehen, Werte sind, die für die Politik und Sozialkritik, die wir heute brauchen, hoch aktuell sind.
Es geht um die Bindewirkung von Werten, um sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft, in der Desintegration ein großes Problem ist. Es geht auch um einen Begriff von Heimat und Zugehörigkeit, der nicht aggressiv und ausgrenzend ist.
Es geht um die Rolle von Individualität und Selbstbestimmung. Die Aufwertung des Individuums durch das Christentum hat eine lange und verwickelte Geschichte. Die Ansprüche auf Freiheit und Selbstbestimmung, die uns heute sehr wichtig sind und die wir gegen verknöcherte Institutionen - auch gegen Teile der Kirche - einfordern, wären ohne diese Geschichte nur schwer vorstellbar.
Etwas Ähnliches lässt sich mit Blick auf die Nächstenliebe sagen. Sie ist ja ein Gegenstück zur Betonung des Individuums im Christentum. Unsere heutigen Vorstellungen von Solidarität und Gerechtigkeit wurzeln ganz wesentlich in der christlichen Nächstenliebe. Ich denke da auch ganz konkret an meine katholische Oma, die mir die wichtigste Lehre mitgegeben hat: „Mir kann es nicht gut gehen, wenn es meinem Nächsten schlecht geht!“
Die Würde des Einzelnen und die Hinwendung zum Nächsten -
hier sind wir nahe beieinander. Und ich zitiere gerne aus dem gemeinsamen Positionspapier der Initiative Kirche von unten und der Bundesarbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen bei Bündnis 90 / Die Grünen:
„Die zentrale Kategorie für eine humane Wirtschafts- und Sozialpolitik ist das ´gute Leben für alle´. Diese Zielvorstellung bildet den gemeinsamen Kern des biblischen und aufgeklärten Denkens. Sie wird getragen durch die wechselseitige Anerkennung aller Mitglieder der Gesellschaft - von Frauen und Männern, von Jungen und Alten, von Leistungsfähigen und weniger Leistungsfähigen - als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger. Es geht um ein respektvolles und solidarisches Miteinander, das auch die ausländischen MitbürgerInnen und Flüchtlinge umfasst.“
Wechselseitige Anerkennung,
politische Teilhabe
und Verteilungsgerechtigkeit
das sind Werte, um die es auch heute geht –
in einer Welt, in der die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander klafft,
in der die Würde des Menschen millionenfach missachtet wird
und das globalisierte Konkurrenz- und Verdrängungsprinzip sich immer mehr durchsetzt.
Hier liegt eine große moralisch-kritische und praktisch-politische Aufgabe für unsere Zeit.
Besonders wichtig finde ich als Grüne den christlichen Anspruch auf Bewahrung der Schöpfung. Das ist ein Feld, auf dem ein christliches Denken einen starken Zugang zu den ökologischen Aufgaben und Problemen hat. Und auch an dieser Stelle geht es um globale Fragen:
die Klimakatastrophe betrifft uns alle – niemand kann einen Zaun ziehen um sein Land und hoffen, dass er verschont bleibt.
Wir müssen endlich „Weg vom Öl“ – die Wende hin zu den regenerativen Energien muss weitergehen.
Und das ist nicht nur ein umwelt- und klimapolitisches, sondern auch ein sicherheitspolitisches Anliegen: knapper werdende Rohstoffe – das führt zu realer Kriegsgefahr.
Liebe Anwesende,
wichtig sind nicht nur einzelne Werte. Es geht auch um den Zusammenhang und die Schnittmengen von Werthaltungen, Kulturen und Traditionen.
Die christliche Idee der Bewahrung der Schöpfung zum Beispiel mobilisiert ganz eigene Kräfte und Motive für das ökologische Engagement – und verbindet sich dabei mit Motiven, die aus anderen Werthaltungen entspringen - z.B. mit lebensreformerischen oder umweltästhetischen Ideen. Es kommt zu einer Überlappung von verschiedenen Diskursen, die hoch spannend ist. Unterschiedliche Motivlagen, die in die gleiche Richtung weisen -
daraus besteht heute die Basis für eine Politik, die in Netzwerken denkt,
die politische Einheit um praktische Probleme herum herstellt,
ohne dabei die Vielheit der Haltungen und Perspektiven zu übergehen.
Ein solches plurales Politikbild steht mir vor Augen - es ist ein ganz anderes Politikbild als das einer homogenisierten Deutschen Leitkultur.
Und in der Pluralität gibt es viele Felder des Konsenses, an denen wir weiter arbeiten, müssen:
z.B. in der Menschenrechtspolitik,
im Eintreten für gerechte Globalisierung,
mit Blick auf die Gentechnik,
im Anspruch auf Nachhaltigkeit,
in der Integrationspolitik.
Ich möchte Sie herzlich einladen, im Gespräch mit uns Grünen diese Gemeinsamkeiten zu suchen und weiterzuentwickeln. Das ist es was, was ein kritisches und basisorientiertes Denken heute braucht.
Vielen Dank.