Predigt von Uwe-Karsten Plisch
Liebe Gemeinde,
Die Bibel ist kein Steinbruch.
Die Bibel ist kein Steinbruch, gleichwohl ist die Versuchung groß, sie als Steinbruch zu benutzen. Viele von uns haben sicher schon mal auf der Suche nach einem geeigneten Trauspruch die Bibel nach dem Stichwort „Liebe“ durchforstet – und sind natürlich fündig geworden. Und haben doch, was Sinn und Kontext des Bibelverses angeht, falsch gelegen.
Die eine oder der andere kennt vielleicht die Geschichte vom Theologieprofessor, der zu seinem Kollegen sagte: Meine Dogmatik ist fertig, mir fehlen bloß noch ein paar Bibelstellen als Beleg.
Und natürlich war auch die Versuchung groß, zum Festgottesdienst des Ökumenischen Netzwerkes Initiative Kirche von unten nach einem geeigneten Predigttext Ausschau zu halten, vielleicht nach etwas hübsch herrschafts- oder amtskirchenkritischen. Aber das Leiden an der Kirche ist ja kein Leiden an der Kirchenobrigkeit (oder jedenfalls nicht nur), sondern ein Leiden an uns selber, denn wir sind ja Kirche. Die Texte, alle Texte, für den heutigen vorletzten Sonntag der Passionszeit eignen sich in ganz besonderer Weise, ihnen Wort für Wort nachzuspüren, um auf das zu hören, was sie uns sagen. (Der Heiligen Schrift Wort für Wort nachzugehen, lohnt sich natürlich immer, aber nicht immer wird auch eine gute Predigt daraus.)
Der heutige Predigttext, den wir als Evangelium schon gehört haben, konfrontiert uns mit einer der spannendsten, aufregendsten, aber auch peinlichsten Geschichten des Neuen Testaments. Der Evangelist Lukas erzählt sie lieber erst gar nicht und dem Evangelisten Matthäus, der sie immerhin berichtet, ist die Geschichte doch so peinlich, dass er nicht direkt von den handelnden Jüngern erzählen mag, sondern erstmal deren Mutter vorschickt. Psychologisch ist das ja plausibel erzählt. Wir alle kennen wahrscheinlich Mütter oder sind selber welche, die sich zum Wohle ihrer Söhne gern mal in deren Leben einmischen und sich – nur zu ihrem Besten – auch schon mal an höhere Instanzen wenden.
Der Evangelist Markus freilich, dem wir die älteste Fassung der Geschichte verdanken, behilft sich nicht mit solch erzählerischen Tricks, sondern mutet uns die Geschichte in ihrer ganzen Härte zu.
Stellen wir uns kurz zwei Repräsentanten zweier großer Konfessionen vor, sagen wir mal, einen EKD-Ratsvorsitzenden und einen Vorsitzenden der römisch-katholischen deutschen Bischofskonferenz. Beide wenden sich gemeinsam an eine höhere Instanz, die sie beide anerkennen, um diese um etwas zu bitten. Welche Instanz könnte das sein – und worum würden sie bitten? Und wäre das schon Ökumene? Eine Ökumene von oben? Wir kommen darauf zurück.
Doch zunächst zum Anfang der Geschichte, wie sie uns Markus berichtet:
Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden. Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich für euch tue?
Jakobus und Johannes, das sind unter den zwölf Jüngern nicht irgendwelche unter ferner liefen, sondern ein Brüderpaar, das zu den allerersten gehört, die dem Ruf Jesu in die Nachfolge gefolgt sind; sie stehen Jesus besonders nahe und werden entsprechend häufig in der Bibel erwähnt. Wie Simon Petrus tragen sie einen besonderen Namen: Donnersöhne. Sie hätten bei Jesus gerne einen Wunsch frei, vielleicht auf Grund ihrer besonderen, privilegierten Stellung, die Bibel schweigt darüber. Jesus entspricht dieser Bitte nicht. „Was wollt ihr, dass ich für euch tue?“, so der revidierte Luthertext, ist übrigens schlecht übersetzt. Die Jünger sind nicht vorbeigekommen, um Jesus zu fragen, ob er ihnen mal eben beim Flicken ihrer Fischnetze helfen könne. Wir wollen, dass du uns tust, was wir dich bitten werden, so hatte Luther ursprünglich übersetzt und fortgesetzt: Was wollt ihr, dass ich euch tue. Es geht nicht um einen kleinen Gefallen, den Jesus FÜR die Jünger tun könnte, sondern um sein vollmächtiges Handeln an den Jüngern. Und Jesus merkt den Braten auch sofort, daher die Gegenfrage.
Die Bitte der Jünger ist von bemerkenswerter Unverschämtheit:
Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.
Welche Herrlichkeit sie meinen, sagen sie nicht, doch werden sie kaum die Herrlichkeit eines umherziehenden galiläischen Wanderrabbis im Sinn haben. Stellt man sich Gott thronend in einem himmlischen Thronsaal vor, so ist der Platz zu seiner Rechten der Ehrenplatz. Wir wissen aus dem Glaubensbekenntnis, dass wir heute absichtsvoll in anderer Form gesungen haben, dass der Sitz zur Rechten Gottes der Platz des kommenden Richters ist – in dessen Nähe wünschen sich die Jünger. Rechts ist freilich nur Platz für einen und rechts und links ist nicht dasselbe. Kommen wir noch einmal kurz auf unsere kirchlichen Repräsentanten vom Anfang zurück: Wessen Platz wäre zur Rechten, wessen Platz zur Linken? Versuchen wir einmal, diese Frage spontan und möglichst ohne lange nachzudenken zu beantworten – Jetzt!
In diesem Augenblick lernen wir viel über unser Kirchenverständnis.
Wir sehen, die Geschichte enthält auch eine gewisse Versuchung zur Selbstgerechtigkeit. Aber keine Sorge, wir kommen auch noch darin vor.
So unverschämt die Bitte der Jünger ist, Jesus weist sie, abgesehen von einem scharfen Tadel, nicht einfach zurück. Jesus, der Lehrer, antwortet vielmehr mit einer Gegenfrage, die auf seinen nahen Kreuzestod vorausblickt.
Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?
Die Reaktion der Jünger ist überraschend, die Antwort Jesu erschreckend. Sie trauen sich die Kreuzesnachfolge bis zur letzten Konsequenz zu und Jesus gesteht ihnen das auch zu. Ein Anspruch erwächst ihnen daraus trotzdem nicht! Diese Zumutung ist stark! Was bedeutet sie für unsere christliche Existenz? Dass zur christlichen Existenz auch die Todesgefahr gehört, haben wir ja erst kürzlich – aus dem Fernsehen! – erfahren. Und trotz aller medialer Aufbauschung und politischer Instrumentalisierung (Muslime trachten Christen nach Leben! Umgekehrt aber auch! möchte man zurückschreien), trotz aller Instrumentalisierung also besteht diese Gefahr ja wirklich, allerdings nicht für uns. Wenn wir also Jesu Antwort auf unsere Verhältnisse herunterrechnen, könnte sie lauten, tue deine Christenpflicht ohne einen Lohn dafür zu fordern! Das ist immer noch allerhand, und eine kleine ironische Aktualisierung will ich mir an dieser Stelle dann doch gestatten: Wer sich als Christin oder Christ engagieren möchte ohne Aussicht auf Ruhm, Ehre und Gewinn, ist bei der IKvu an der richtigen Adresse!
Zurück zu uns. Im nächsten Vers erscheinen sie: die Entrüsteten, die Empörten, die Mit-dem-Finger-Zeiger.
Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes.
Aber warum? Weil sie nicht zuerst die Idee hatten, zu fragen? Sind sie sauer auf die Vordrängler? Fühlen sie sich ertappt? Oder werden sie unwillig, weil ihnen eine Konsequenz vor Augen gemalt wird, vor der sie die Augen lieber verschlössen?
Zum Schluss gibt Jesus noch allen Jüngern eine Belehrung mit auf den Weg, die mit einer Erfahrungstatsache argumentiert, die offenbar allen so geläufig ist, dass sie weder besonders eingeführt noch extra begründet werden muss:
Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.
Auch hier ist die Übersetzung der revidierten Lutherbibel nicht ganz präzise: „Die als Herrscher gelten“ ist eine Abschwächung des griechischen Textes. Der Satz beschreibt eigentlich den ersten Irrtum aller Mächtigen und lautet genaugenommen: Die zu herrschen meinen, halten ihre Völker nieder. (Zur Etymologie: Das griechische Wort für „herrschen“ kommt nicht von „Herr“).
Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Sklave sein.
Wie müsste das aussehen: Herrschen durch Dienen? Geht das? Und wenn ja, wie geht das? Ohne moralische Erpressung! Wie müsste eine Kirche aussehen, deren Mächtige Diener sind und deren Erste Sklaven? Scheitert Kirche nicht seit fast 2000 Jahren recht erfolgreich an eben dieser Frage?
Die angemessene Frage der Jünger gegenüber ihrem Lehrer ist jedenfalls nicht die Bitte um Herrlichkeit. Die angemessene Frage ist die Frage der Jünger während ihres letzten Mahles mit Jesus:
(Herr:) Bin ich’s? (Mk 14,19)
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.