Laudatio von Renate Wind

Laudatio für Fanny Dethloff zur Verleihung des Dorothee Sölle – Preises am 2.6.2011

Flüchtlingsgespräche

Für Fanny Dethloff  - in Erinnerung an Dorothee Sölle

 

Von den Rändern dieser Erde sammle ich die Heimatsucher“, sang die Gruppe Habakuk 1989 auf dem Kirchentag in Berlin zu Beginn der Bibelarbeit von Dorothee Sölle und Luise Schottroff. Es war ein unvergesslicher, intensiver Augenblick, denn Suche nach Gerechtigkeit und Heimat hat viele Facetten und Kontexte, und manchmal trifft es einen im Allerinnersten.

 

 

Wie sehr auch in Dorothee Sölles Leben und Denken die Suche nach Heimat  mit der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Solidarität verbunden war, zeigt sich vor allem in ihrem Engagement für die Heimatlosen. Sie, die sich in ihrem Land mit seiner katastrophalen Geschichte oft als heimatlos bezeichnete, findet  in der Hilfe für die Flüchtlinge dieser Welt eine Aufgabe, die sie tief berührt. In ihren Jahren als Professorin am Union Theological Seminary in New York reist sie kreuz und quer durch die amerikanischen Staaten und nach Kanada. Politischer Schwerpunkt ist in diesen Jahren die Arbeit einer vor allem von kirchlichen Kreisen getragenen Bewegung zur Unterstützung illegaler Einwanderer. Die Sanctuary – Bewegung nimmt politische Flüchtlinge und illegal in die USA eingewanderte Menschen aus den Armuts- und Bürgerkriegsregionen Mittelamerikas auf, verschafft ihnen Arbeitsmöglichkeiten und Unterkunft und versteckt sie vor den Behörden. Das ist gegen das Gesetz, es kommt zu einer Reihe von Prozessen. Dorothee schreibt darüber in ihrem new yorker tagebuch: „Nächste Woche fahre ich nach Phoenix und Tuscon, Arizona, zur Unterstützung des Prozesses gegen die angeklagten Gesetzesbrecher. Es sind Christen, die politische Flüchtlinge aus El Salvador und Guatemala, die keine Einreisepapiere haben, in Kirchen verstecken. Sie machen die Kirchen wieder zu einem Heiligtum  (sanctuarium) – wo der Staat nichts zu suchen hat.“ Das Elend der Flüchtlinge wird ihr zu einem Herzensanliegen. Einmal mehr geht es um Heimat, aber auch um das Abarbeiten einer alten Schuld. In einem Text, der 1985 für die amerikanische Sanctuary – Bewegung geschrieben wurde, heißt es unter anderem: „Als ich ein Kind war, hatten jüdische Leute in Nazideutschland kein Obdach, um sich zu verstecken. Falls du mich fragst, was die Kirchen in jenen Tagen taten – ich weiß nichts zu sagen. Es gab keinen Zufluchtsort in dem Land, es gab keinen heiligen Bezirk, um sich zu verstecken und sich für eine Weile geborgen zu fühlen. Ich lese in dem Buch, dass ein Volk ohne Visionen zugrunde geht. Aber ein Volk ohne heiligen Raum der Rettung vor den Mördern ist schon tot. Gott segne die Sanctuary Bewegung. Er lasse sein Licht leuchten über die, die illegal werden um der Illegalen willen. Sie möge alle, die ihre Heimat verloren haben, trösten. Gott segne uns alle, Heimwehkranke, und führe uns in ein Land, in dem es heiligen Raum gibt.“

 

Unermüdlich erinnert sie an die Flüchtlingsgeschichten aus der Bibel, aber auch an die uramerikanischen Ideale, an die Worte von Emma Lazarus an der Freiheitsstatue im Hafen von New York: „Give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to be free…Send these, the homeless, tempest-tost to me…“ In den Veranstaltungen und Interviews rund um den Prozess geht es immer wieder um die Frage der Zusammengehörigkeit von Politik, Religion und Recht. Diese Diskussion ist Dorothee nur allzu bekannt – und Ihnen, Fanny Dethloff, auch. Handeln Sie aus politischen oder religiösen Motiven heraus, fragen die Reporter. Es geht hier nicht um Religion, sondern um Rechtsverletzungen, sagen die Richter – sie will sich auf diese Unterscheidungen nicht einlassen. Aber auch in der Sanctuary Bewegung selbst gibt es Gruppen, die sich nicht politisch „vereinnahmen“ lassen wollen. Ihnen schreibt sie nach ihren Erfahrungen in Tuscon einen Brief: „Ich mache mir immer noch Gedanken über die Spannungen zwischen der Chicago und der Tuscon Gruppe…Die meisten, so scheint mir, wollen einfach Jüngerinnen und Jünger Christi werden, Nachfolgende in einem praktischen Sinn des Tuns der Barmherzigkeit…Im Nachdenken über die spirituelle Situation dieser Graswurzel-Arbeiter in der Bewegung fiel mir die Bibel ein, vor allem die Struktur des Neuen Testaments. Wenn ihr die ersten drei Evangelien mit den Briefen des Paulus vergleicht, findet ihr eine ähnliche Spannung zwischen der Guten Nachricht, dem Heilen, der Speisung, dem Tun der Arbeit Gottes einerseits und den reflektierten Gedanken und der Praxis des Apostel Paulus andererseits…Der Unterschied zwischen Paulus und seinen Freundinnen und Freunden in Rom, Korinth und Chicago einerseits und den Freundinnen und Freunden Jesu in Galiläa und Tuscon andererseits liegt meines Erachtens in zwei Punkten: in Theorie und Organisation. Beide sind notwendige Schritte, die aus der Verpflichtung wachsen, unsere Nächsten wie uns selbst zu lieben…Ich denke, die frühen Christen mussten eine bewusste Entscheidung treffen für  beide – die Theorie und die Organisation der Liebe; es war eine bewusste Entscheidung für eine sozio-politische Analyse, die schon im Lehren Jesu gegenwärtig war, und ein Schritt in die Organisation, die damals ‚ecclesia‘ genannt wurde, die Kirche.“

 

Bis in die persönlichsten Texte hinein sind die Flüchtlinge präsent. Dorothee kann sich auch hier eine Trennung von Glauben, politischem Engagement und privatem Glück nicht mehr vorstellen. Für einen amerikanischen Freund schreibt sie dieses Gedicht:

 

Ich hätte dir gern die Magnolien am Broadway gezeigt

und wär mit dir zu dem alten Juwelier aus der 123sten gegangen

der mein Armband reparieren will aus Sympathie

spreche ich nicht deutsch

im Central Park sind selbst Tulpen liebenswürdig

 

Was schön ist lebt schnell hier

vielleicht haben wir nicht mal Zeit

für den kurzen New Yorker Frühling

wenn wir den Flüchtlingen zuhören

die ihre Geschichten loswerden müssen

und ihre Angst nicht loswerden

 

Ich hätte dir gern die Magnolienblüten gezeigt

mitten auf der Fahrbahn

und wär mit dir zu Freunden gegangen

die mit Flüchtlingen leben für eine Weile

 

Ich glaub immer weniger an das Glück

das Zweien ganz für sich gehört

und immer mehr an das kurze geteilte

in das die Geschichten fallen aus Kellern und Lagern

die Magnolienblüten auf die Fahrbahn.

 

Liebe Fanny Dethloff, in die Geschichten aus Kellern und Lagern, die Sie so gut kennen, in die Berichte aus Flüchtlingsbooten und  Abschiebezellen soll heute eine Ermutigung für Sie fallen, wie Magnolienblüten auf die Fahrbahn, ein bisschen Schönheit, die wir brauchen in all dem Kämpfen und Widerstehen. „Der Widerstand“, sagt Fulbert Steffensky, „wächst aus der Wahrnehmung des Schönen. Und das ist der langfristigste und gefährlichste Widerstand, der aus der Schönheit geboren wird.“ Eine Ermutigung sollen Sie heute bekommen, die alle brauchen, die sich an die Ränder dieser Erde begeben, zu den Heimatlosen, in der Nachfolge des Messias Jesus, der auf diesem Weg vorangegangen ist. Schön, dass Sie, Fanny Dethloff, nun dafür  den Dorothee Sölle – Preis bekommen!

 

Renate Wind