Was sind Strukturen der Kirche, die sexualisierte Gewalt begünstigen?

Theologische Denkmuster und ihre psychologischen Folgen:

Die verengte Interpretation des Kreuzestodes Jesu als Opfer (in verschärfter Form: Vom Vater gefordert!) hat im Rahmen einer „imitatio-Christi-Spiritualität“ für Priester eine Opferideologie hervorgebracht, die einen Verzicht auf die Entwicklung des Selbst, eine Grundhaltung der Unterwürfigkeit und psychische Abspaltung produzieren kann.

Jesu Kreuzestod als Opfer zu interpretieren ist nur eine Sicht in der Frühzeit der ersten Gemeinden und Zeichen für das Ringen um die Annahme dieser in seiner Konsequenz ihm aufgezwungenen Folter und Hinrichtung. Er ist zudem nur zu verstehen im Rahmen einer jüdischen Märtyrertheologie des 1. Jahrhunderts – aber keinesfalls als Interpretationsmuster für später oder sogar für heute.

 

Die Fehlübersetzung von Hebr 5,1 „ex anthropon lambanomenos“  als „aus den Menschen auserwählt“ hatte verheerende Wirkung – es bedeutet aber ganz einfach „aus den Menschen genommen“.  Der erste Fehler besteht darin, diesen Text über den Hohenpriester, der die Opfer darbringen soll, auf die jetztigen Priester anzuwenden. Der zweite Fehler besteht in der falschen Übersetzung, die eine Überhöhung des Priesterstandes nahelegt und zu Allmachtsphantasien anregt. Der dritte Fehler ist überhaupt, eine verengte Opfertheologie auf das Brot-Teilen in der Eucharistiefeier zu beziehen und den Priester mit der Idee zu belasten, er könne „Gott vergegenwärtigen“.

 

Institutionelle Festlegungen und ihre psychologischen Folgen:

Es ist das Bild des idealisierten Klerikers, das der Hierarchisierung eines Teils der Kirche zugrunde liegt. Dieses Bild braucht zur Stabilisierung und Weiterführung die Verbindung von Zölibat (Ausblenden der Sexualität), dem Ausschluss der Frauen (Ausblenden eines Teils der Wirklichkeit) und der zentralen Position des männlichen Priesters (Einzigartigkeit, Besonderheit). Den Zusammenhang rigide durchzuhalten kann narzisstische Störungen zur Folge haben. Dieser Zusammenhang zieht schwache Persönlichkeiten an, denn es erspart ihnen die Auseinandersetzung mit sich selbst (auch mit ihren Trieben) und gewährt ihnen im Gegenteil, ihren Narzissmus unhinterfragt auszuleben und die ungute Verbindung von Unterwerfung und Machterhalt. Es ist die geschützte und theologisch legitimierte Machtkonstruktion, die zu Übergriff und Gewalt verleiten kann. Einsamkeit, Mangel an Austausch mit Gleichaltrigen, Arbeitsüberlastung und Alkoholprobleme können das Ihrige dazu beitragen.

 

Das Priesterideal duldet keine Schuldzuweisung, das Ideal muss sogar gegen besseres Wissen durchgehalten werden. Eine Infragestellung würde das ganze sakral aufgeladene Machtsystem zusammenbrechen lassen. Die Folgen: Wer zu diesem System gehört und in ihm eine Funktion übernommen hat, muss Mitgefühl in der Tiefe abspalten. Selbst die unmittelbare Begegnung mit traumatisierten Opfern kann gegen diese Immunisierung nicht so an, dass es zu einer echten Infragestellung käme. Jeder Priester, der sexualisierte Gewalt angewendet hat, wird zuerst als Gefahr für dieses System angesehen – und nicht als Gefahr für weitere potentielle Opfer.

 

Pastorale Strukturen und ihre praktischen Folgen:

Seit den 80ern und verstärkt seit den 90ern wird das Zweite Vatikanische Konzil zum Verstummen gebracht, sei es durch Uminterpretation, durch Ausblenden oder durch Bevorzugung seiner Leugner. Das hat Folgen: Volk-Gottes-Traditionen geraten in Vergessenheit und werden auch nicht mehr praktisch wirksam. Mit der Zeit ist das Vergessen vergessen und es kommt zu Traditionsabrissen. Wer aber nicht mehr weiß, woher er kommt, weiß auch nicht mehr zu beurteilen, wohin er gehen kann und soll. Das ist einer der Gründe für die zunehmende Oberflächlichkeit pastoraler Entscheidungen, für das rein pragmatische (offiziell heißt es „systemtheoretisch“) Beurteilen von Situationen und für den großen Mangel an theologischer Reflexion.

Vor diesem Hintergrund war es möglich, eine Strukturreform im Bistum Trier und in anderen Bistümern durchzuführen, die Gemeinden zunehmend entmündigt, Mitsprache zu Anhörung und Vorschlagsrecht verkommen lässst und den Verbänden das Bewusstsein dafür ausredet, was ihr besonderer Anteil am Sendungsauftrag der Kirche ist.

In dieser Atmosphäre gedeihen Gefälligkeitszustimmungen und ein „regressiver Katholizismus“, dem zunehmend die Tiefe abhanden kommt. Auch das Geld spielt als Machtfaktor eine Rolle. Das ist keine gute Voraussetzung für die kritische Wahrnehmung von Abhängigkeiten und unguten Zusammenhängen. Das ist auch keine Atmosphäre, in der Mut und Zuversicht wachsen können. Ein Mitgefühl mit Opfern sexualisierter Gewalt droht an der Oberfläche zu bleiben; dass mit ihrem Schmerz die Herzmitte Jesu getroffen ist, kann nur noch schwer erfasst werden.

 

Die Gründe für den tiefen Vertrauensverlust sind vielfältig, aber nachvollziehbar. Und änderbar. Vertrauen in eine Kirchenleitung kann wieder wachsen, wenn die Verantwortlichen nicht länger den Verbrechern in der Kirche mehr glauben als den Kritikern in der Kirche.

 

Nur zwei Literaturtipps (es gibt weitaus mehr!):

 

Dieter Funke, Die Wunde, die nicht heilen kann

Bischof Geoffrey Robinson, Macht, Sexualität und die katholische Kirche